Alissa Walser wird 1961 als eine von vier Töchtern des Schriftstellers Martin Walser und dessen Ehefrau Katharina in Friedrichshafen geboren. Nach dem Abitur in Gaienhofen/Bodensee folgte ein Studium der Kunst in New York und Wien. Während dessen und danach schriftstellerische Tätigkeit, auch als Übersetzerin zusammen mit ihrem Vater. 1992 Siegerin beim Ingeborg Bachmann Lesewettbewerb, im selben Jahr Auszeichnung mit dem Bettina-von-Arnim-Preis. Mitgliedschaft im PEN- Club, mehrere Buchpublikationen, Theaterstücke und Ausstellungen. Alissa Walser lebt und arbeitet in Frankfurt a.M.

Frau Walser, sind Sie eine dichtende Malerin oder eine malende Literatin?

In Japan ist es ein Zeichen von Kultur, Verschiedenes miteinander zu verbinden. Sogar unterschiedliche Religionen oder Stile. Warum also nicht sowohl als auch? „Kunst“ polarisiert zwar – mal mehr mal weniger. Im Innersten aber, grundsätzlich, vereint sie. In Bezug auf mich scheinen mir die grundsätzlichen Fragen geklärt: Die Dinge begründen sich gegenseitig. Neulich, ich weiß nicht wo, habe ich einen Satz gelesen, den ich nur schön fand: „Das Bild bringt die Schrift auf den Begriff.“ Vielleicht ist es so, daß die Sprache, die in jedem Einzelnen sich ausbildet, wiederum mit daran Teil hat, das Bild zum Leuchten zu bringen.

Sie arbeiten ja auch in Ihren Büchern mit Bildern ….

In allen Büchern, die ich bisher gemacht habe, sind Bilder. Ich habe Bücher mit Bildern immer gern gehabt. Das hat wahrscheinlich mit der Kindheit zu tun, mit Kinderbüchern; aber dann, als Erwachsene, ist mein Interesse von Neuem aufgetaucht – aus der Frage: was macht ein Bild mit einem Text und welches Verhältnis kann es zwischen Bild und Text geben? Ich hatte ja inzwischen Kunst studiert. In meinem ersten Buch war das noch ein illustratives Verhältnis, das Bild folgte dem Text. In den späteren Büchern fügen die Bilder den Texten etwas hinzu, das so im Text nicht zu finden ist. Es ist spannend, einen Text in seinem Fluss durch ein Bild zu unterbrechen, so zu unterbrechen, dass sich der Text einen Augenblick lang verwandelt. Ein Bild nimmt man ja ganz anders auf, und für den Leser heißt das dann, dass er mitten in der Gewohnheit des Lesens seine Wahrnehmung umschalten muß. Das hat im besten Falle etwas Spielerisches, und das kommt mir sehr entgegen.

Wie schöpfen Sie immer wieder neues Leben?

Es schöpft sich selbst. Ich meine, ich habe kein Rezept. Ich vermute, dass Ihre Frage bedeuten wollte, womit sich meine Arbeiten immer wieder neu beleben. Das hängt mit dem eigentümlichen Begriff der Inspiration zusammen. Vieles kann mich inspirieren, Landschaften, Bilder, Menschen, Texte, Tiere, Bewegungen, Licht, Gerüche, etc. Aber die Inspiration kommt nicht aus den Dingen an sich, sondern aus den Verhältnissen – auch den formalen – zwischen ihnen. Da stoßen Welten aufeinander, von deren Aufeinandertreffen wir sonst nur noch aus den Nachrichten „hören“ und die wir, über die Medien vermittelt, oft mit Macht und Gewalt kurzschließen.

In Ihren Geschichten geht es oft um die Liebe, und oft findet sie in Dreiecks-Beziehungen statt, wie z. B. in „Die kleinere Hälfte der Welt“ oder in „Ein Auto, ein Lastwagen und eine Schildkröte“, warum?

In diesem sogenannten Dritten vermittelt sich das, was geschieht noch einmal anders. Gewalt z. B. harmonisiert sich auf ein schmerzhafte Art. Mit-Leiden führt es vielleicht vor Augen. Aber da müsste ich jetzt weit ausholen.

In Zusammenhang mit Ihrer Arbeit taucht der Begriff „Verletztheit“ auf. Was bedeutet er für Sie?

Erstens: Einmal bin ich in der subway nach Brooklyn im Gedränge gestolpert und habe mir ziemlich den Fuß verknackst. Zweitens: Der Schmerz, den ich erinnere, ist ein eigener Wert, ein anderer als die Relation, in der ich ihn heute unterbringe. Und dennoch muß ich eine heutige Gestalt finden für das, an was ich mich erinnere. New York ist inzwischen eine andere Stadt als vor achtzehn Jahren; ich bin anders. Gerade auch durch die Erfahrung New York. Drittens: Die Verletzungen, die meine künstlerische Arbeit produktiv machen können, füge ich mir wahrscheinlich auch selber zu. Eine Art Verletzung durch Erkenntnis.

Was bedeutet Ihnen Heimat, seit Sie für längere Zeit in der Fremde waren?

Als erwachsener Mensch unterscheide ich zwischen Heimat und Zuhause. Heimat ist mit der Kindheit verknüpft. Wir bleiben keine Kinder, aber im besten Falle behalten wir etwas aus unserer Kindheit bei uns. Insofern ist der Begriff nicht ideologisch konnotiert, auch wenn er oft von der Politik instrumentalisiert wird. Wir hier in Mitteleuropa, Menschen meiner Generation, leben ja auch nicht mehr in einer Zeit, wo tatsächlicher Heimat-Verlust die Gefühle blockiert. Unsere Gefühle von Heimat können verletzt werden (von Architektur, Zerstörung von Natur, einer neuen Sicht auf die Kindheit), aber der Verlust von Heimat ist etwas anderes. Ich stelle gelegentlich Gefühle bei mir fest, die mir keineswegs unangenehm sind – die ich mit Heimat verbinde. Meine Heimatgefühle sind nicht ortsgebunden. Eine bestimmte Atmosphäre genügt, ein bestimmtes Licht, eine Melodie oder ein Geruch, um bei mir heimatliche Gefühle aufkommen zu lassen. Z. B.: Wasser und wie es das Licht reflektiert. Vielleicht liegt das ja daran, dass ich meine Kindheit am Bodensee verbracht habe.

Anlässlich der Ausstellung in Konstanz ist ein sehr schönes Heft mit Ihren Zeichnungen und Gedichten von Sascha Anderson erschienen. Wie funktioniert Ihre Zusammenarbeit?

Jeder arbeitet für sich, macht sein Ding. Und dann sehen wir, ob und wie es zusammen geht. Stellen Sie sich das wie eine Parallelität vor, die sich immer wieder im Unendlichen trifft. Wir schauen aus verschiedenen Richtungen auf Dasselbe. Das erweist sich für ein gemeinsames „Produkt“ als Vorteil, weil es eine gewisse Homogenität fördert. Wenn Sie die Gedichte lesen, werden sie spüren, dass sich alles darum dreht, das Antipodische „aufzuheben“.

Was steckt hinter der Oberfläche?

Die Oberfläche sagt doch schon alles. Die Oberfläche hat den Vorteil, die Grenze zwischen der äußeren Welt und dem Inneren zu bilden. Die Oberfläche ist nicht das Oberflächliche, sondern die Grenze, also auch das Verbindende zwischen Innen und Außen – zwischen Künstler und Welt, zwischen dem Inneren des Betrachters und der Äußerung des Künstlers.

Wie nährt sich ihr lyrisch-bildnerisches Ich?

Zum Glück muss ich das nicht wissen. Ich bin keine Wissenschaftlerin. Ich weiß, wie sich Menschen ernähren und warum. Ich könnte mir vorstellen, dass das lyrisch-bildnerische Ich, von dem mir jetzt, verzeihen Sie, eine konkrete Vorstellung fehlt, ähnliche Bedürfnisse hat.

Wie kommt man als Betrachter in Ihre Bildwelten?

Mit den Augen, bzw. mit der von den Augen geleiteten Seele. Wenn ich Sie beim Wort nehme, meinen Sie ja die Geschichten der Figuren, die sich auf den Bildern darstellen. Wenn man Seele als etwas Lebendiges betrachtet, stellt sie die Wachheit des Hintergrunds eines Zusammenhangs dar. Oft kann eine einzelne Seele das reale Geschehen gar nicht (er)tragen. Dann verteilt sie es auf viele Schultern. Auf die Schultern der Farbe oder die Schulter der Linie, die sehr stark ist, auch abgrenzend- also verbindender Natur. Die Last oder auch das Glück der Welt wird verteilt auf viele Figuren. Und diese Seele teilt sich dem mit, der sie bei sich selbst ebenfalls wachgehalten hat. Es ist sicher eine, vielleicht nicht die kleinste Aufgabe der Kunst, die Seele wachzuhalten.

Stellen Sie uns mit den Bildern Fragen, setzen Sie auf Mehrdeutigkeiten?

Die Künstlerin stellt Ihnen keine Fragen. Sie stellt sich höchstens selbst Fragen. Und das Bild fragt, wenn es gefragt wird. Von sich aus stellt es keine Frage. Je mehr der Betrachter weiß, um so mehr Fragen kann er stellen. Die Antworten liegen zwischen der Linie und dem Weiß des Blattes.

Sie stammen aus einer sehr kreativen Familie. Neben Ihrem Vater sind auch Ihre drei Schwestern in künstlerischen Berufen tätig. War Ihnen das als Kind Inspiration, wurden Sie früh gefördert?

Nicht planmäßig. Wahrscheinlich atmosphärisch. Was ich heute tue – Schreiben und Zeichnen -, hatte einfach eine Selbstverständlichkeit. Und wenn der Vater in vollem Ernst von morgens bis abends an seinem Schreibtisch, eigentlich aber in einer für das Kind unzugänglichen, eigenen Welt sitzt, dann versucht das Kind spielerisch diesem Ernst gerecht zu werden, sich ebenso eine Welt zu erschaffen, eine Art Aufmerksamkeit zu gewinnen. Kinder wollen ja teilhaben an der Verantwortung für alles. Das ist vielleicht auch etwas, was man sich bewahren sollte.

Sie haben zusammen mit Ihrem Vater eine ganze Reihe Bücher von Edward Albee aus dem Englischen übersetzt. Kann man sich einen besseren Lehrmeister vorstellen?

Wir haben voneinander gelernt. Schon als Schülerin habe ich angefangen, Theaterstücke mit ihm zu übersetzen. Das bot sich an, denn, da ich immer, wenn mein Vater als Gastprofessor in Amerika gearbeitet hat, dort auch in die Schule ging, habe ich gut Englisch gesprochen. Natürlich lernt man als Kind von den Eltern, aber man muss auch sehen, dass Eltern das ungeheure Privileg haben, aus nächster Nähe eine nächste Generation wahrzunehmen und von ihr zu lernen. Lernen ist ja keine Einbahnstraße.

Gab es Zeiten, in denen Sie von dem sogenannten „Über-Vater“ erdrückt wurden? Wie wird man als Tochter damit fertig?

Man geht möglichst weit weg (z.B. nach Amerika). In der Fremde relativiert sich alles, denn man merkt, dass es nicht der Vater ist, der einen erdrückt, sondern das Klischee des Über-Vaters in den Köpfen der Menschen, die ihn dafür halten.

Was verstehen Sie unter „grausamer Zärtlichkeit“?

Das heißt doch nur, dass kein Mensch weiß, wie er wirkt oder was er bewirkt. Wir leben in Verhältnissen, die wir oft nicht überblicken. Im ständigen Versuch, uns Zusammenhänge vor Augen zu führen, entwickeln wir natürlich unsere Werkzeuge. Mir wäre eine „grausame Zärtlichkeit“ lieber als eine „zärtliche Grausamkeit“. Sie erscheint mir produktiver.

Gibt es einen Schmerz, den man nur mit Hilfe der Literatur oder der Kunst ausdrücken kann?

Die Kunst weigert sich, den Schmerz unmittelbar erscheinen zu lassen. Die Kunst drückt also keine andere Art von Schmerz aus, sondern sie drückt Schmerz anders aus als z. B. der klagende Mund eines Trauernden. Wie schaffen Sie die Atmosphäre für Ihre Bilder? Das tut die Erfahrung für mich. Die Erfahrung ist die Grundierung der wachen Seele, von der wir vorhin gesprochen haben.

Wie gestalten Sie Ihre Pausen? Sind Sie schonungslos?

In den Pausen lebe ich, d. h. ich mache Erfahrungen, stelle meine Verhältnisse immer wieder vom Kopf auf die Füße.

Ist man glücklicher, wenn man sich mit „der kleineren Hälfte der Welt“ zufrieden gibt?

Die „kleinere Hälfte“ ist ein Paradox. Einige Menschen können ihr Glück immer im momentan Vorhandenen finden. Aber ich glaube, es kommt nicht darauf an, glücklich zu sein, sondern genau. Ein anders Paradox – in dem Fall von Nicolas Born- sagt, „Kunst heißt, das Leben mit Präzision verfehlen“.

Thomas Bernhard war ein Schriftsteller, der ohne Melancholie gar nicht arbeiten konnte. Wie wichtig ist der Zustand für Sie?

Nicht unwichtig.

Wo steckt Ihre zweite Haut?

Wo ist unwichtig. Hauptsache, es gibt sie.

Was haben Sie von Ihrer Mutter gelernt?

Klavierspielen.

Was sind Ihre Träume?

Das würde zu weit führen.

Wie geht es Fanny Gold? (Anm.: Pseudonym der Künstlerin)

Diese Frage freut mich. Ich glaube, es geht ihr gut. Ich werde sie grüßen.

Frau Walser, vielen Dank für das Gespräch

Interview: Johannes Fröhlich / Foto: Peter Wettering