Der Künstler Harald F. Müller im Gespräch mit Johannes Fröhlich
Harald F. Müller wird 1950 in Karlsruhe geboren. Er absolviert in Stuttgart ein Studium der Kunst und Kunstgeschichte. 1979 tritt Müller den Dienst als Kunstlehrer im Singener Friedrich-Wöhler-Gymnasium an, nach 35 Jahren beendet er seine Lehrtätigkeit 2014 und ist seitdem als freier Künstler tätig. Harald Müller ist mit Regina Henke verheiratet und hat eine erwachsene Tochter.
Johannes Fröhlich: Herr Müller, Sie sind seit einem Jahr im Ruhestand, vermissen Sie die Schule?
Harald F. Müller: Ja natürlich, das war ja eine sehr schöne, intensive Zeit. Als ich damals nach Singen in die Schule gekommen bin, konnte ich den Kunstbereich aufbauen, das war 1979, eine sehr dynamische Zeit. Ich habe eine Kunst AG gegründet, hatte tolle Kollegen,wir haben den Bereich der Bildenden Kunst im Fri-Wö auf einzigartige Weise nach vorne gebracht. Wir hatten zeitenweise 8 Stunden Kunst AG’s, große Projekte, große Ausstellungen, wir haben praktisch die Schule angemalt. Ich habe einige Schüler begleitet, die später Designer, Architekten oder Künstler wurden. Mit vielen bin ich heute noch befreundet und in gutem Kontakt.
Wie sind Sie denn auf das Fach Kunst gekommen, was war Ihr Ansporn?
Mich hat immer Kunst interessiert. Ich hatte einen sehr guten Kunsterzieher, der übrigens Popart Ausstellungen gemacht hat, weit über Karlsruhe hinaus. Er war sehr bekannt, machte einen tollen Unterricht und hat mich sehr gut motivieren können. Wenn man so ein Vorbild hat, dann macht man eben auch Kunsterziehung, geht in die Schule. Schön war, dass ich die Kunst und die Schule miteinander verbinden konnte. Die Erfahrungen der Kunst konnte ich in der Schule umsetzen.
Was muss ein Kunstlehrer mitbringen, damit der Schülern Zugang zur Kunst vermitteln kann, gibt es ein Rezept?
Es gibt nur eines, das ist Begeisterung. Wenn ich beispielsweise Antonio Zecca nehme, der bei uns unterrichtet hat, wenn ich andere Kollegen nehme, alle sind in der Lage, etwas aus den Schülern heraus zu kitzeln. Begeisterung ist das was Not tut, und das, was man braucht. Das kann man nicht lernen, das funktioniert nicht rezeptiv.
Welche Maler oder Künstler haben Sie beeinflusst, etwa Baselitz, Immendorf oder Anselm Kiefer?
Nein, überhaupt nicht. Wenn etwas mich stark beeinflusst hat, dann war das Matisse, dann von Matisse ausgehend zu den Amerikanern, David Newman oder Mark Rothko, dann kam die Popart mit Warhol dazu, dann Experimentelle, dann die Minimal Art, die sehr wichtig war, Donald Judd etwa. In den 1990er Jahren war es dann Joseph Beuys, ich habe mich stark für ihn interessiert. Ich kannte ihn von der Dokumenta, dort war er immer anwesend, wir waren im Gespräch, das war ein regelrechtes Kraftfeld, ein wunderbarer Mensch. Toll, sehr interessant. Beuys hatte mich auch als pädagogische Person beeinflusst, er hatte seinen erweiterten Kunstbegriff immer gelehrt und dann weiter gegeben. Dieses Weitergeben und die Form der Lehre waren schon sehr wichtig, gleichzeitig waren die Konzeptkünstler prägend. Es gab den berühmten Satz: „Außer den Beteiligten gibt es kein Publikum“. Man hat einfach alles mit hinein genommen.
Wenn wir in Stilen oder Gattungen denken, sind Sie ein Informeller oder Abstrakter?
Das kann man so nicht sagen. Ich glaube ich passe in keine Schublade rein, die ganze Kunstgeschichte besteht aus Schubladen, das sind lediglich Orientierungshilfen. Ich habe sehr früh mit Spurensicherung begonnen, habe mit Tesafilm Farben von Häusern abgenommen während meines Studiums und habe damit Frottagen gemacht. Ich bin ja ein 68er, habe damals politische Parolen von den Wänden abgenommen und wieder aufgeklebt in Büchern und großen Bildern. Dann habe ich Farben und Pigmente in Italien mitgenommen mit Tesafilm. Ich habe also immer etwas weggenommen, was real da war. Das gleiche machte ich dann mit Fotos, die ich aus Zeitungen und Zeitschriften ausgeschnitten hatte, das war Mitte der 1970er Jahre. Später habe ich dann eigentlich diese Approbiation Art entwickelt, die kam in den 1980er Jahren. Gleichzeitig hatten viele auch mit Fotos experimentiert. Aus der Zeit stammen viel der Pigmente, die ich in meinem Atelier habe. Ich habe das Material bei Kremer in Eichstätt gekauft. Mittlerweile habe ich Hunderte von Pigmenten angesammelt. Das sind auch historische, die heute gar nicht mehr erhältlich sind. Wenn ich früher mit Tesafilm Farbe abgenommen habe von Hauswänden, dann mache ich heute die Wände selber farbig. Ich habe früher Spurensuche betrieben, recherchiert, heute mache ich das selber. Wenn das große Gebäude sind wie in Zürich oder Stuttgart, dann bin ich derjenige, der das entwirft, ich gebe den Entwurf an eine Firma, die mischen das nach und so wird das dann realisiert das Atelier hatte ein paar Hundert im Monat gekostet, die Farben waren teuer. Doch langsam konnte man mal was verkaufen, gewann einen Preis oder Wettbewerb, so hat sich das entwickelt.
Nun ist ja das Kunstmuseum in Singen neu gestaltet worden und mit dem MAC gibt es ein weiteres Museum. Sind diese Projekte gelungen?
Ja, sehr schön. Das Ganze hat eindeutig gewonnen, sehr schön gemacht, großzügig. Es wurde auch Zeit, dass der Christoph Bauer die Sammlung aus dem Keller endlich zeigen kann. Ich bin gespannt auf Ausstellungen. Ich denke die sind dort gut aufgestellt. Auch die Aktivitäten des Kunstvereins, da kann man sicher tolle Dinge veranstalten. Wichtig ist, den jungen Künstlern eine Chance zu geben, die direkt von der Uni kommen.
Was sind Ihre aktuellen Projekte? Paris, Bregenz, Winterthur, Zürich?
Gerade hatte ich in Bregenz eine Ausstellung. Ich werde demnächst in Köln und Friedrichshafen Ausstellungen haben. In Friedrichshafen gestalte ich die neue Zeppelin-Uni mit. Bregenz ist die Schau „Magazin4“. Die Universität Stuttgart hat ein großes Rechenzentrum, dort mache ich eine Kunstintervention. Das schöne ist, dass ich das Glück habe, mit Universitäten zusammen arbeiten zu können. Ich bleibe, wenn man so will der Schule erhalten. Also Sie machen Farbgebung und Farbräume?Ja, ich gestalte in Stuttgart den Hof der Universität, das sind Betonwürfel auf einem grünen Grund, Wandfarben, den großen Hörsaal, der bekommt blaue Scheiben nach außen hin, die werden nicht mehr verdunkelt. Da sind wir ziemlich weit vorne, das ist ein respektables Projekt.
Inwiefern korrespondiert Ihre Kunst mit Architektur, ergänzend oder Hand in Hand?
Ja, das ist eine Art der Kollaboration, der Zusammenarbeit, die Architekten fragen mich, ob ich eine Vorstellung hätte. Manchmal bin ich in der Planung dabei als Ideengeber. Ich bin kein Künstler, der wie ein Designer Farben entwickelt. Ich bin im Prozess mit drin. Ich gebe Ideen, Farbvorstellungen, die werden dann realisiert. Parallel zur Entwicklung der Architektur. Es ist meistens so, dass ich mit den Architekten zusammenarbeite. Ich hatte vor 2 Jahren auf der Architektur Bienale in Venedig das Thema „Kollaborations“, da habe ich mit dem Züricher Architekturbüro Schigon/Gullier zusammen gearbeitet. Es wurden gemeinsame Projekte ausgestellt.
Wie kommt man zur Fotografie?
Ich bin kein Fotograf, ich fotografiere Bilder ab, man kann sagen, ich scanne sie. Dann werden die Bilder groß gemacht, mittlerweile drücke ich auch mal einfach drauf. Ich fotografiere meine Bilder, auch weil ich etwas von Licht verstehe, von Farbveränderungen. Diese Bilder interessieren mich, die mache ich groß, mit denen arbeite ich.
Was inspiriert Sie, wo liegt die Quelle für Ihre Ideen?
Ich glaube das Unterwegssein. Ich schaue einfach viele Ausstellungen an, mir reicht das was ich hier vorfinde nicht aus. Früher war ich viel in Industriearchiven, bei Hoffmann La Roche oder Ciba Geigy. Ich habe dort Bilder gesucht und gefunden. Ich lese sehr viel, habe viele Kunstbücher, gehe in Bibliotheken. Ich fahre sehr viel Auto, dann sehe ich Dinge, die mich interessieren und die ich dann fotografiere. Ich habe eine Kamera im Auto, mit der filme ich, so bin ich permanent am Finden.
Wie schaut ein Arbeitstag bei Ihnen?
Es gibt keine Regel. Manchmal geht gar nichts, dann gehe ich spazieren oder besuche Freunde. Dann bin ich wieder inspiriert. Momentan mache ich das Grau für eine Cezanne-Ausstellung in der Sammlung Reinhard in Winterthur. Dort mache ich ebendieses Grau für den Hintergrund. Ich mache mit meinen Pigmenten bis zu 10 Farbmuster, hänge das mit der Kuratorin in der Ausstellung und dann merken wir, dass Cezanne ein ganz anderes Grau benötigt als ein anderer Künstler, etwa ein Renoir. Dann wird das Grau auf die Bilder definiert auf den Raum, das ist ein hochkomplexer Vorgang, es handelt sich dann um ein Pigment, eine Temperafarbe, die in der Schweiz hergestellt wird, die ich kontrolliere. Zu der Firma sage ich dann, ich brauche das so oder so. Der Prozess geht dann über einen Monat. Am Ende sieht keiner, dass ich da etwas gemacht habe, die Farbe dient ja nur als Hintergrund. Das ist eine hoch spannende Sache, macht richtig Freude.
Wie wichtig ist Ihnen der Kontakt zu anderen Künstlern, haben sie Verbindungen oder arbeiten Sie alleine?
Ich arbeite sehr viel mit Künstlern zusammen, habe sehr viele Kontakte, grade mit Harald Braun in Stuttgart etwa oder mit Adrian Schiess in Zürich, das ist das A und O. Vor einigen Monaten war ich in Amsterdam, dann haben wir Studenten besucht, die dort ausgestellt haben, drei davon werden wir in Köln zeigen. Mich interessiert, was die machen und das ist auch eine Sache der Kunstförderung. Das werde ich in Singen auch machen, wenn meine Halle fertig ist. Ich stelle ein Podium zur Verfügung, die Halle wird von anderen mitgenutzt werden. Wenn ich einen Monat in Paris bin, kann ein Anderer die Räume nutzen. Ich werde aber keine Galerie machen. Wenn man wie ich das Glück hat von seiner Kunst zu leben, so wie ich etwa als Lehrer, dann sollte man das auch weitergeben.
Arbeiten Sie auch mit Worten, Texten, mit Lyrik?
Nein, ich bin zwar ein Homme de Lettre, aber ich schreibe nicht. Ich habe allerdings schon Bücher mit Autoren gemacht, die Bilder von mir mit Texten versehen haben, mit Gerd Blum etwa.
Wie bringen Sie Ihre Kunst an den Betrachter? Im Atelier, in Ausstellungen oder anderen Orten? Wie wichtig ist Ihnen das Feedback der Zuschauer?
Das ist ein Prozess, man stellt aus und bekommt etwas zurück. Ob man im Gespräch oder der Diskussion ist, das macht natürlich Freude, wenn das in Zürich oder Köln ist. Oder in Nizza. Es gibt einen Gesprächsprozess, der wichtig ist, einerseits muss man aufpassen, dass man den Leuten nicht nach dem Maul redet. Die Auseinandersetzung ist wichtig, Resonanz auch. Manchmal passiert bei einer Ausstellung gar nichts, dann muss man einfach weiter machen.
Wie erklären Sie Ihre Kunst? Abstraktion ist ja keine einfache Sache…
Ich mache ja keine Abstraktion, sondern ungegenständliche Dinge und Materialien. Stoffe oder Papiere oder Gummimappen…
Also schon die Tradition von Beuys, verschiedene Materialien zueinander zu fügen…
Nehmen wir Kurt Schwitters, dann stehe ich schon eher in dessen Tradition. Beuys hat Gegenstände genommen, die aber mit Ideen aufgeladen, dann Performances gemacht und die aufgeladen. Ich mache keine Aussage und will nicht die Welt retten mit Schwarz und Weiß. Ich habe keine direkten Inhalte, die faktisch etwas verändern.
Nochmal zurück zur Stadt Singen: Für eine Stadt dieser Größe ist doch in Sachen Kunst einiges geboten…
Ja, das stimmt schon so. Singen hat einen weiten Einzugsbereich, verkehrstechnisch extrem günstig gelegen. Züricher oder Stuttgarter kommen bequem über die Autobahn hierher. Es spricht einiges für die Stadt. Wenn man das Industriegebiet anschaut, in Singen ist alles kompakt, verglichen etwa mit Konstanz. Man darf die Stadt einfach nicht mit anderen vergleichen. Singen hat andere Qualitäten wie etwa Konstanz. Was mir hier gefällt ist die Geschwindigkeit und Offenheit. Es gibt ein bestimmtes Interesse für Kunst etwa. Der OB Häusler war mit uns auf der Dokumenta, es gibt die Kunstnacht, jetzt das neue Museum MAC, da passiert schon was. Ich werde von Öhningen weg gehen. Otto Dix hat einmal gesagt, die Landschaft Höri sei „zum Kotzen schön“. Dann fragt man sich, warum ist Dix nicht weggegangen. Man bleibt hier, aber es verirrt sich halt niemand nach Öhningen, es sei denn ich lade ein. Wenn ich mit dem Bus nach Singen fahren möchte bin ich zwei Stunden unterwegs. Ich bin in der schönsten Landschaft der Welt. Es ist ein Traum, aber die Gegend ist einfach nicht erschlossen. Für mich als Künstler ist Singen einfach besser. Singen ist eine schnelle Stadt. Mit durchaus schönen Strukturen. Singen hat die Alu oder die Maggi, es gibt wunderbare mittelständische Firmen, ich kann einkaufen, ich bekomme alles in Singen. Die Stadt hat eine Geschwindigkeit. Nehmen wir das Fri-Wö Gymnasium. Eine Schule die so liegt ist doch ein Traum, das gibt es nicht mal in Stuttgart, das Wasser ist da, der Blick auf den Hohentwiel, das ist hochgradig romantisch. Singen hatte schon immer eine Kulturpolitik, schon unter Dietz noch oder unter Möhrle. Es gibt eine Konstante. Die Ausstellung „Hier, Da und Dort“ war sensationell. Wenn ich heute Leuten den Katalog zeige, sind die völlig verblüfft. In Singen passieren einzigartige Dinge. Ich habe hier gearbeitet, bin hier eingebettet, das empfinde ich als sehr angenehm.
Wir haben am Fri-Wö Dinge gemacht, die in Baden-Württemberg einzigartig waren. Nicht nur Ausstellungen, wir waren jedes Jahr mit 100 Schülern auf der Documenta. Wir sind in die Schweiz gefahren, nach Österreich, um dort Ausstellungen anzuschauen. Nochmal: Singen hat eine andere Offenheit und eine andere Dynamik. Wenn ich nach Stuttgart ginge, könnte ich mein Bauprojekt nicht verwirklichen. In Singen ist das bezahlbar, zum Glück.
Wie ist Ihre neue Halle konzipiert?
Ich habe das selbst gemacht. Es ist eine einfache Bauweise, ich möchte keine Architektur machen, ich brauche einfach Raum für mich.
Wie lautet Ihr Lebensmotto?
Immer weiter, ja nicht hängen bleiben. Was mich politisch schon fasziniert, das ist diese Gemeinschaft. Wir haben das freie Reisen, ich war immer in den USA, in Frankreich oder Italien, ich bin nach Neapel gefahrenmit dem Zug, habe mir dort vier Bilder angeschaut und bin mit dem Zug wieder zurück. Dieses Reisen, Unterwegs sein brauche ich. Ich war in Ägypten mit dem Bus und mit dem Fahrrad unterwegs, das geht heute gar nicht mehr. Dieses In-der-Gemeinschaft-Unterwegssein ist schon etwas Tolles. Ich war in Athen, was dort passiert ist schlimm. Das ist die Wiege unserer Kultur, ich bin überzeugter Europäer. Ich hoffe, dass jedes Land seine nationale Identität behalten kann. Dafür kann man sich einsetzen.
Einen Wunsch frei für die Zukunft?
Einfach dieses Unterwegssein, man muss nicht unbedingt ankommen. Wenn ich weiter reisen kann, wäre das schön. Ich war mit einem Freund in Italien und Frankreich unterwegs, ich bin gefahren, der Fabian hat gefilmt, wir haben eine Art Roadmovie gemacht, Architektur und Kunst gefilmt. Das war schon sehr, sehr schön. Das Miteinander, das soll ein wesentlicher Bestandteil unserer Gesellschaft sein. Was grade in Paris passiert ist mit den Anschlägen, das ist Wahnsinn und darf nicht passieren. Europa ist eine Chance, das müssen wir nützen.
Herr Müller, danke für das Gespräch.