Peter Glotz galt lange Jahre als DER Bildungsexperte der deutschen Sozialdemokratie. Oft eckte er mit seinen außergewöhnlichen Thesen auch innerhalb der eigenen Partei an. Als wir das Interview über sein Sekretariat anfragten, wußten wir nicht, dass Peter Glotz auf einer Intensivstation im Koma lag und unter künstlicher Beatmung mit dem Tode rang. Mittlerweile geht es dem Professor im Unruhestand wieder besser. Wir trafen ihn während seines Aufenthalts in einer Radolfeller Reha-Klinik zum Interview.

Herr Prof. Glotz, warum schneiden die Deutschen bei Pisa so schlecht ab?

Das hat unterschiedliche Gründe. Es gibt nicht einen einzigen Grund. Mit Sicherheit ist es nicht einfach das Gesamtschulsystem oder das gegliederte Schulsystem. Es hängt zum Beispiel auch mit der Integration von ausländischen Kindern zusammen. Es hängt ganz offensichtlich mit der Mathematik-Didaktik zusammen, die zum Beispiel in Japan, Skandinavien oder Österreich wesentlich besser ist als bei uns in Deutschland. Es gibt unterschiedlichste Punkte, an denen wir Deutsche nachbessern müssen.

Was läßt sich konkret verbessern, vor allem auch für Kinder?

Ich glaube, dass viele europäische Länder einsehen müssen, dass Lernen schon sehr früh anfangen kann. Das muss nicht mit Noten versehen werden, das muss keinen Drill bedeuten. Das französische System der Ecole Maternelle, in dem schon Lesen und Schreiben gelernt wird, ist sicher weitaus sinnvoller als eine Ideologie, welche die Kinder im Kindergarten nur spielen läßt. Also zum einen früh mit dem Lernen einsetzen, und zum anderen selbstverständlich versuchen, auf die Individualität der Kinder einzugehen. Das ist leider nicht immer möglich, weil wir einfach oft zu große Klassen haben. Auch heterogene Klassen, das heißt, wenn Kinder in einer Klasse sind, die Deutsch nicht als Muttersprache haben…

Glauben Sie nicht auch, dass man in die Schule wieder ein Stück Spaß bringen muss?

Ja natürlich, wobei ich nicht sagen würde, dass Kinder in der Schule generell keinen Spaß haben. Da muss man vielleicht ein wenig genauer hinschauen. Es gibt ein großes Experiment an einer deutschen Universität unter dem Titel Mathe macht Spaß. Das ist schon sehr gut. Viele Leute halten das für komisch. Auf die Idee, dass Mathe Spaß machen könnte, kommt erst mal niemand.

Also eine Frage, wie Wissen vermittelt wird?

Ja genau, das ist eine Frage der Didaktik. Da sind die deutschen Universitäten offenbar nicht genügend auf Lehrer eingestellt. Der Deutsche Mathematik-Professor möchte Diplom-Mathematiker erziehen, und dabei die Funktionsanalyse durchnehmen. Er möchte in die Regionen der höheren Mathematik vordringen. Die Bedürfnisse, die einer hat, der den Kindern in der Grundschule das Rechnen beibringt oder auch Differential-Rechnen in den Gymnasien, interessieren an der Uni eben nicht. Das ist unter anderem das Problem.

Wir haben auch immer mehr arbeitslose Akademiker. Wie können wir junge Leute dazu motivieren, an die Universitäten zu gehen?

Das Problem besteht so eigentlich nicht. Wir haben eine steigende Zahl von Studierenden, und je höher die Bildung, desto geringer die Arbeitslosenquote. Wir haben derzeit etwa 250.000 arbeitslose Akademiker, unter 5,2 Mio. ist das ein geringer Faktor. Gelegentlich liegt das natürlich auch an den Menschen selber. Wenn jemand die Universität eher als Selbsterfahrungsgruppe denn als Lerninstitution begreift, darf er sich nicht wundern, wenn er irgendwann Taxi fährt. Es gibt bestimmt auch harte Schicksale, aber generell gilt immer noch, je mehr einer lernt, desto besser ist er vor Arbeitslosigkeit geschützt. Sind die Studenten im 21. Jahrhundert Wissensarbeiter oder gehören sie zur Elite? Das muss sich ja nicht widersprechen…

Sie haben den Begriff mit geprägt…

Ja, in der Unterscheidung zu Handarbeitern. Ob Symbolanalytiker oder Wissensarbeiter, sie müssen umgehen mit intellektuellen Tatbeständen. Das wird in einer Gesellschaft wie der unsrigen immer notwendiger, weil wir mit den Löhnen nicht so runter gehen können wie die Chinesen oder die Polen. Also brauchen wir jede Menge Leute, die mit diesen Wissensbeständen umgehen können. Aus denen heraus bilden sich dann solche Eliten, wirtschaftliche, kulturelle, wissenschaftliche, politische. Aber das bedeutet keinen Gegensatz. Die meisten Angehörigen von Eliten sind Wissensarbeiter.

Das Bundesverfassungsgericht hat kürzlich für die Studiengebühren das OK gegeben. Sie waren schon sehr früh dafür. Stehen Sie noch dazu?

Ja, selbstverständlich. Meine Partei teilt diese Meinung mehrheitlich nicht, obwohl es auch mehrere gibt, die meiner Meinung sind. Die SPD in Baden-Württemberg hat sich grade wieder dagegen ausgesprochen, was gut ist für den Wahlkampf. Meiner Meinung nach ist das nicht durchhaltbar. Es liegt schlicht an der Finanzmasse. Sie bekommen vom Finanzminister nicht mehr, auch wenn es ein Sozialdemokrat ist. Zudem gibt es eine gewisse Leitfunktion wenn Sie zahlen. Dann werden Sie Universitäten haben, die in der Provinz liegen, wo man sehr gut Oberregierungsrat am Landratsamt werden kann. Auch da müssen Sie gut ausbilden. Auch einen Tierarzt für Kleintiere. Dort werden wir relativ billige Gebühren haben. Wenn Sie die Universität München oder die Humboldt Universität nehmen, dort wird es dann wesentlich teurer werden, wenn Sie zum Beispiel Medizin studieren wollen.

Wie lässt sich das organisieren, dass die Gelder ein Stück weit wieder den Studenten zugute kommen?

Das geht in der Tat nur durch einen Staatsvertrag der Ministerpräsidenten. Wenn Sie das nicht machen, dann hat das Ganze keinen Zweck. Wenn man einfach die jetzigen Zuschüsse zu den Universitäten verkürzen will durch das Geld das rein kommt von den Studierenden , dann haben wir ein Nullsummen-Spiel, das ist vollkommen sinnlos.

Die Studenten müssten dann die Lehre finanzieren?

Dagegen hätte ich ja gar nichts. Nur wenn dann die Länder die Forschung finanzieren usw., dann wird das Ganze zu einer sinnlosen Operation. Stichwort Internet. Wir sind mittlerweile in der Lage, in Sekundenschnelle um den Globus zu reisen, wir tauschen grenzenlos Informationen aus.

Können wir diese Entwicklung intellektuell nachvollziehen?

Es kommt darauf an, was Sie unter wir verstehen. Die junge Generation wächst damit auf…

Sie haben den Begriff des digitalen Proletariats geprägt…

Ja, das gibt es natürlich. Leute, die mit der Entwicklung nicht mit können, teils aus bildungspolitischen Gründen, oder weil sie sich die Hardware nicht leisten können oder weil sie einfach damit beschäftigt sind, irgendetwas zu tun, damit sie ihr Geld verdienen, und keine Zeit haben, am Computer zu sitzen. Aber die junge Generation ist damit vertraut und verwachsen. Nicht zu vergessen die Weiterbildungsprozesse. Wir haben schon den Prokuristen, der früher 15 Angebote in Deutschland versendet hat für die Komponenten eines Rasierapparates, und heute alles übers Internet abwickelt. Er schreibt mal eben ein Angebot per Mail und steht so im Kontakt mit Ländern wie Indonesien. Er muss auch erst lernen, damit umzugehen.

Sind wir in der Lage, verschiedene Lebenskulturen zusammen zu führen? Sind wir tolerant genug?

Die Kommunikation ist ja eine sehr persönliche, sie geht von Mensch zu Mensch oder von Firma zu Firma. Es gibt ja auch Leute, die ihren Partner oder ihre Partnerin übers Internet finden. Das sind doch sehr persönliche Kontakte und Beziehungen. Es wird ja keiner irgendeinen Muslim an mailen und sagen, lass uns mal eben über den Koran diskutieren…

Solche Foren gibt es aber schon…

Ja, gelegentlich. Dafür muss es aber irgendeine Diskussionskultur, einen Chatroom, einen Ansatz geben. Das gibt es schon, insofern ist die Kommunikation sehr viel internationaler geworden, als sie es früher war, mit einem Fingertip sind sie in Los Angeles, so kann man sich auch in Foren einbringen, zu denen man früher keinen Zugang hatte.

Kann man Kindern und Jugendlichen Toleranz lehren?

Ja, das ist ein Problem der Schule. Wenn Sie in der Schule Lehrer haben, die ungerecht sind und mit Kindern falsch umgehen, dann werden Sie Toleranz nicht einprägen. Das ist auch ein Lernprozess.

Also muss man das Thema sehr früh und behutsam an Kinder heranführen?

Ja natürlich. Und zwar nicht nur in der Schule, auch in der Familie. Es gilt für alle Gruppen, in denen soziale Interaktion statt findet.

Brauchen wir Eliten?

Das ist keine Frage, ob wir sie brauchen, wir haben sie schlicht. Das ist eine empirische Frage. Es gibt ein Buch von C. Wright Mills, Power Elite . Ich meine Herr Schrempp ist Power Elite, er hat einfach über Daimler Chrysler zu bestimmen, Herr Schröder über die Bundesregierung, Frau Merkel über die CDU, oder Herr Zadek über sein Theater. Das sind Eliten. Sie können auch einen Werte bezogenen Elitebegriff wählen. Dann kann auch ein Arbeiterpriester Elite sein, eine Krankenschwester. Man muss sich genau fragen, was man unter dem Begriff versteht. Für manche Menschen ist auch der Sektenguru Elite. Was meinen Sie, wenn Sie von der Zweidrittel-Gesellschaft sprechen? Der Begriff wurde in den 80ern geprägt, zur Zeit Ronald Reagans und Maggie Thatchers. Ein erheblicher Teil der Menschheit wird einfach ausgegrenzt. Wenn Sie bedenken, dass wir 28 Mio. Erwerbs-tätige haben und 5 Mio. Arbeitslose, dann kommen wir schon nahe an das besagte Drittel dran. Es geht generell um Menschen, die aus welchem Grund auch immer an dem produktiven Kern dieser Gesellschaft nicht mehr teilhaben können. Sie leben dann von wer weiß was, Sozialhilfe, Schwarzarbeit und so weiter. Diese 2/3 Struktur ist bei uns in Europa sehr verbreitet.

Werden die Arbeitslosenzahlen sinken?

Das vermag ich nicht zu prognostizieren. Herr Clement sieht das so, ich vermute eher nein, aber ich bin kein Fachökonom. Die großen Erfolgsstorys der letzten zwei Jahre sind Continental, die Reifenfirma. Von 60.000 Mitarbeitern in Deutschland sind 80% der Arbeitsplätze nach Polen verlegt. Die sind im Aktienindex hochgeschossen. Das selbe gilt für die Firma Braun-Elektro. Bei dem Kapitalismus, den wir haben, müssen wir uns nicht wundern, wenn Arbeitsplätze ins Ausland verlegt werden.

Werden sich Bürger offen zur Wehr setzen?

Ja, ich nenne das die Kirgisische Lektion . Die Kirgisen haben nach dem Vorbild der Ukrainer eine Revolution gemacht. Wir können darauf warten, bis 300 entlassene Arbeiter eines Betriebes irgendwann den Betrieb kurz und klein schlagen werden.

Sie galten zusammen mit Erhard Eppler als der Querdenker innerhalb der SPD…

Nach Eppler. Die Reihenfolge war Carlo Schmidt, Erhard Eppler, Peter Glotz…

Wer sind Ihre Nachfolger?

Es gibt sie zur Zeit nicht so richtig, das gilt für alle Parteien. Die theoretische Durchdringung des politischen Stoffes ist derzeit nicht besonders gefragt.

Sie haben sich 1996 von der aktiven Politik verabschiedet, sind aber immer noch SPD-Mitglied. Ihre Meinung ist immer noch gefragt. Engagieren Sie sich noch?

Ja, wenn enge Freunde mich um etwas bitten. Aber den ganzen Wahlkampfzirkus mache ich nicht mehr mit. Ich war noch ein Jahr lang Vertreter der Bundesregierung im europäischen Konvent, damals hatte ich noch engen Kontakt mit der Regierung. Von daher habe ich noch Freunde wie Otto Schily oder Wolfgang Clement.

Sie haben viel erreicht in Ihrem Leben. Gibt es noch etwas, was Sie reizt?

Ich denke und schreibe, gelegentlich trete ich im Fernsehen auf. Das genügt mir, ich bin jetzt 66 Jahre alt.

Herr Prof. Glotz, herzlichen Dank für das Interview und weiterhin guteBesserung.

Interview: Johannes Fröhlich / Foto: Peter Wettering