LAUF‘ GABLER, LAUF

 

Romanfragment

Gabler stand am Fenster und schaute auf das rosarote T, das am Dach des vierzehnstöckigen Fernmeldegebäudes gegenüber angebracht war. Die Aprilsonne begann langsam dahinter zu verschwinden, es war bereits später Nachmittag.
„Das Leben ist eine rosarote Sackgasse,“ dachte er. „Alles ist irgendwie rosarot. Nichts Halbes und nichts Ganzes.“
Er war gerade erst aufgestanden, den vorigen Abend hatte er bis in die Puppen bei der Eröffnung eines neuen Szenelokals verbracht. Ein entfernter Bekannter von ihm hatte ihn gefragt, ob er für das Stadtmagazin etwas darüber schreiben könnte. Die Gastronomie war zwar nicht sein Metier, außerdem haßte er solche Events, wie man das heutzutage nannte, doch Gabler hatte zugesagt. Schon um der paar Kröten für das Foto willen, die er dabei verdienen konnte.
In seinem Kopf perlten die Reste zahlreicher Gläser billigen Proseccos nach. Er versuchte sich zu erinnern, wie er nach Hause gekommen war. Es mußte zu Fuß gewesen sein, soviel stand fest, denn seit über einem Monat hatte er kein Auto mehr. Sein heißgeliebter alter Saab stand abgemeldet auf dem Grundstück eines Gebrauchtwagenhändlers. Der Wagen war Gablers Heiligtum gewesen. Langezeit hatte er dafür gespart, nun konnte er ihn nicht mehr finanzieren. Die Reparaturkosten fraßen sein in letzter Zeit immer spärlicher gewordenes Zeilenhonorar auf.
„Und für das Ding wollen Sie noch Geld haben?“ hatte der Typ mit seinen graumelierten Schläfen ihn gefragt.
Wenn er länger als drei Monate steht, kann ich ihn gleich verschenken, rechnete Gabler nach.
„Gebrauchtwagenverkaufsprovision,“ hallte es ihm noch in den Ohren. Welch widerliches Wort im Zusammenhang mit einem Gegenstand, der einem am Herzen lag.

Die Eröffnung war ein voller Erfolg gewesen. Die mehr oder minder illustre Schar von Gästen, eine Mischung aus geladenen Freunden des Wirtes und zu späterer Stunde auftauchenden nicht geladenen Gesichtern, denen man ständig begegnete, wenn es etwas umsonst gab, war voll des Lobes über das einfallsreiche Ambiente: Das gesamte Mobiliar, bestand aus hundseinfachen Tischen und Stühlen aus Holz, die mit knallrotem Kunstleder überzogen waren; als Beleuchtung fungierten einige gelbe Neonröhren an der Decke, Bilder an den Wänden gab es keine. Vermutlich hätten sie gestört.

„Was schreibe ich nur darüber?“ hatte Gabler gleich gedacht. „Die Sache ist doch in drei Sätzen gegessen. Ebenso wie das ganze Ding selbst, wenn der Besitzer nach dem ersten Ansturm in einem halben Jahr Konkurs anmelden muß. Vielleicht dauert es auch ein ganzes Jahr.“
Auch an der Theke war nichts Tesonderes, sie war einfach aus dem selben Holz wie die Möbel, nur ohne den grellen Überzug. Auf die Frage an einen der Kellner nach der Garderobe für den Mantel meinte dieser nur, es gäbe keine. Da würde immer so viel geklaut, es sei besser, wenn die Gäste ihre Jacken bei sich behielten.
„Das sei ja auch out heutzutage,“ sagte eine Frau, die die kurze Unterhaltung mitgehört hatte.
„Eine Garderobe out? Auch das noch. Na ja, vielleicht kommt ja noch was,“ versuchte Gabler sich bei Laune zu halten.
Es kam tatsächlich noch etwas. Nachdem binnen der ersten Stunde alle mit ihren Beteuerungen abgeschlossen hatten, daß es nett von Norbert sei, den Prosecco kostenlos auszuschenken, folgte eine kurze Ansprache des „Brauereigebietsleiters“, wie dieser sich vorstellte.
„Man sei stolz darauf, hier ein ganz neues Produkt anbieten zu können,“ meinte er, „es handle sich um eine spezielle Biersorte, welche auch durch das Etikett auf der Flasche vor allem fortschrittlich denkende Menschen anspreche.“
Gabler hatte schon einiges gehört, diese Art von billiger PR jedoch war ihm neu. Ein Bier mit Etikett für fortschrittlich denkende Menschen also.
FRAG war der wundersame Name des Gebräus, und auf den gebrüllten Schlußsatz „FRAG Marsch“ der circa zehn bis zwölf Sätze insgesamt fassenden Ansprache wurden auf Tabletts die ersten Flaschen gereicht. Das Etikett zeigte eine aus dem Wasser auftauchende oder abtauchende Hand -genau konnte man das nicht feststellen- die eine Flasche FRAG in der Hand hielt.
„Bis zwölf Uhr gibt’s FRAG umsonst, danach eine Woche zum halben Preis,“ meinte der Brauereigebietsleiter dann noch.
„Die Flasche auf der Flasche,“ dachte Gabler. „Das Prinzip der ersaufenden Babuschka“.
Er griff sich ein Exemplar und beschloß, nachdem der Geschmack für ihn der gleiche war wie der vieler anderer Biersorten auch, der Sache auf den Grund zu gehen.

Der Brauereigebietsleiter erwies sich als dankbares Objekt für ein Kurzinterview. Auf die Frage, was es mit der Hand auf sich habe, ob FRAG einen nun ins Wasser oder aus dem Wasser raus ziehen würde, erklärte er beim Lösen seines Kravattenknotens, das müsse doch jedem normal denkendem Menschn klar sein. Wer wolle heutzutage noch untergehen, die Wege von uns allen müßten schließlich nach oben führen.
„Und FRAG hilft dabei?“ fragte Gabler nach.
„FRAG kann in unserer Welt vieles leichter machen,“ war die Antwort.
Gabler traute seinen Ohren nicht, doch er wurde heiß auf mehr Informationen.
Wie der Name denn zustande gekommen sein, war seine nächste Frage. Ob das Wort eine Abkürzung sei, oder ob es aus einer anderen Sprache stamme.
„FRAG ist ein Fantasiewort. Die Firma hat unter mehreren Werbeagenturen einen Wettbewerb ausgeschrieben, ohne die läuft heute ja gar nichts mehr. Den Zuschlag haben wir gegeben, weil die ersten zwei Buchstaben gleich sind wie zum Beispiel bei den Wörtern Freiheit oder Freundschaft. Fröhlichkeit kann man auch assoziieren. -AG haben wir als Endung angehängt, weil das Ganze schön kurz bleibt, und man es amerikanisch aussprechen kann, FRÄG. Dabei dachten wir im Übrigen auch an das Wort Frog.“
Gablers Gesichtzüge vermittelten offenbar Unverständnis.
„Sie als Journalist sind doch bestimmt des Englischen mächtig,“ kam als nächstes. „Frog heißt Frosch, und das ist doch ein lustiges und sympathisches Tier, nicht wahr? So soll auch unser Bier eines für lustige und sympathische Menschen sein.“
Gabler war baff.
„Ach Frosch, deswegen die grüne Flasche,“ stellte er sich verständlich.
„Auf die Idee bin ich noch gar nicht gekommen, sie sind ja schlauer als ich dachte. Nein, die Farbe der Flasche ergab sich daraus, daß grünes Glas momentan das billigste im Recyclingverfahren ist. Eigentlich wollten wir mit Weißglas neutral bleiben.“
„Achso“, meinte Gabler. Soweit hatte er alles begriffen. Die letzte Frage stellte er aus rein privatem Interesse, weil er sich gelegentlich schon Gedanken darüber gemacht hatte, in die Werbebranche zu wechseln. Ein ehemaliger Kollege von ihm war vor einiger Zeit bereits abgewandert.
„Würden Sie mir sagen, wieviel die Agentur für ihren Vorschlag bekommen hat?“
„Eigentlich darf ich nicht darüber sprechen, das ist Betriebsgeheimnis,“ kam als Antwort, „aber die Zahl war sechsstellig, das können Sie ruhig wissen.“

„Sechsstellig?“ fragte Gabler zur Sicherheit noch einmal nach. „Nach oben oder unten tendierend?“
„Wo denken Sie hin, nach oben natürlich.“
„Und wie lange dauerte dieser Wettbewerb, können Sie mir das noch sagen?“
„Sie sind neugierig, junger Mann, das gefällt mir. Wir hatten von der Ausschreibung bis zu unserer Entscheidung glaube ich an die acht Monate.“
Acht Monate. Für vier Buchstaben. Und das sechsstellig bezahlt.
Gabler bedankte sich, wechselte von FRAG zu Prosecco und begann auszurechnen, wieviele Zeilen er für die Zeitung schreiben mußte, die ihn momentan als Freiberufler beschäftigte, um auf eine sechsstellige Summe zu kommen. Vermutlich hätte er bis zum Ende irgendeines seiner vielleicht noch kommenden Leben gebraucht.
Nach der FRAG-Performance des Brauereigebietsleiters ging man zum gemütlichen Teil des Abends über: Parmaschinken, Melone, billigem Prosecco und reichlich Froschbier.
„Froschbier,“ dachte Gabler. „Genau. Warum eigentlich nicht Froschbier? Als Etikett ein Frosch, der aus dem Wasser springt. Vielleicht im Taucheranzug.“
Das Ganze war fast schon peinlich, besonders die ausgelassene Heiterkeit, mit der die Veranstaltung begangen wurde.
Gabler war das alles ziemlich egal, es paßte zu dem Gefühl von Indifferenz, das er seit Wochen in sich trug. Alles war ihm seit der Trennung von Anne mehr oder weniger gleichgültig geworden. Er erledigte den restlichen Pflichtteil der Geschichte, machte noch ein paar Fotos, beschloß auf ein zweites Interview mit Norbert, dem Wirt, zu verzichten, und gab sich anschließend dem Alkohol hin. Die Quittung dafür lieferten ihm nun seine Kopfschmerzen.

„Schreibt man Ciao eigentlich original-italienisch, oder eingedeutscht als Tschau?“ dachte er, als er in die Küche ging, um sich einen Kaffee zu kochen.
„Ich ruf Dich an,“ hatte er noch im Ohr. „Ciao“ oder „Tschau.“- Oder war es „Schau…“ gewesen?-
Schwarzes Stratchmini, frisch diplomierte Germanistin, nach eigenen Angaben inzwischen überzeugte Single-Frau. Wie hatte sie eigentlich geheißen? Irgendwas mit Chris- war es gewesen. Christina, Christiane?- Gabler hatte sich, als er schon betrunken war, an ihr festgebissen.

„Wie denn seine Erfahrungen mit dem Journalismus hier in einer Kleinstadt seien, in der es nur eine Zeitung gäbe,“ wollte sie von ihm wissen.
„Hier zu studieren sei ja noch O.K.,“ hatte sie dann gemeint, „aber hier auch zu arbeiten, ausgeschlossen. Das sei doch alles sehr mager, keine Aufstiegsmöglichkeiten usw. “
Gabler versuchte ihr daraufhin mehrere Gläser lang zu erklären, daß auch kleine Journalisten ihre Existenzberechtigung hätten. Es war zwecklos.
Irgendwann kam dann die Krönung der Fachsimpelei, die im Grunde gar keine war, denn auf die Frage, ob sie denn überhaupt schon einmal etwas veröffentlicht hätte, in einer Unizeitschrift vielleicht, kamen von der jungen Frau nur unverständliche Blicke. Unizeitschrift, was soll das denn?-
„Für die SÜDDEUTSCHE zum Beispiel muß man halt schreiben, wenn man’s zu etwas bringen will, oder für die FAZ. Alles andere ist doch schließlich Peanuts,“ meinte Chris-.
Alleine als Gabler die beiden Namen hörte, fiel ihm fast seine Nikon aus der Hand.
Vor Jahren noch während seines Studiums hatte er einmal einen Artikel in der ZEIT lancieren können, doch bis heute war dies sein erster und auch letzter Coup geblieben.
„Ach für die SÜDDEUTSCHE,“ sagte er kopfschüttelnd. „Ist das alles?“
Im Moment war er gerade mal froh um den Fotoauftrag für das Stadtmagazin.
„Alles oder nichts,“ hielt sie gegen. „Und das Paßfoto auf dem Lebenslauf muß man einscannen, das macht einen fortschrittlichen Eindruck.“

SÜDDEUTSCHE-Lebenslauf-Provinzschreiber. Es war richtiggehend aufmunternd.
Gablers Laune näherte sich ihrem Höhepunkt. Er hatte weder ein aktuelles Paßfoto noch einen Scanner. Was er zu dem Zeitpunkt am allerwenigsten gebrauchen konnte, war jemand, der ihm versuchte klarzumachen, was er im Grunde doch für eine Lusche war. Absagen verschiedener Firmen, bei denen er sich als Jurist beworben hatte, hörte er auf zu sammeln. Mit der Zeit war ihm das zu deprimierend geworden. Endlich hatte er wieder einmal jemanden gefunden, der richtig im Leben stand und wußte, wo’s langging.
Zum Glück geriet das Thema Erfolg im Beruf im Laufe des Abends in den Hintergrund zugunsten unverfänglicher Allgemeinplätze, die im Nachhinein betrachtet jedoch so austauschbar waren wie das Geschwätz des Brauereigebietsleiters. Zum Beispiel dem Unterschied von trockenem Sekt und Prosecco, den Gabler bis dato immer noch nicht kannte, obwohl er schon mehrfach darüber informiert worden war oder der Ästhetik fehlender Bilder an der Wand.

Irgendwann nach Mitternacht hatte man dann jenes Stadium alkoholbedingten Selbstbewußtseins erreicht, bei dem die Worte ohne jegliche Zensur einer übergeordneten Gedankeninstanz aus einem heraussprudeln. Das erleichterte vieles, man konnte auf altbekannte Schemen zurückgreifen. Begonnen wurde mit den Kurzstenogrammen der jeweiligen Lebensläufe, den Mittelteil der Unterhaltung beging man mit so existenziellen Themen wie dem Manko von defekten Waschmaschinen in Wgs oder einer neuen wissenschaftlichen Untersuchung des libidinösen Verhältnisses von Rimbaud zu seiner Halbschwester. Geendet hatte es gestern Abend mit einem „Ich finde Dich trotzdem ganz nett,“ das Gabler zum Schluß noch für sich verbuchen konnte.
„Trotzdem“ hatte sie gesagt. Darauf erst mal einen Klaren. Gabler schaute auf die Uhr, es war gegen vier.
„Macht nichts,“ dachte er „geschlafen habe ich lange genug.“
Er goß sich einen Bioobstler ein und prostete dem Etikett der Flasche zu.
Trotzdem. Dieses kleine aber fiese Wort erlangte inzwischen bei bei solchen Beziehungsvorstellungsgesprächen immer größere Bedeutung. Keiner war von seinem Gegenüber begeistert, doch gleich die Tür zuzuschlagen wurde erst mal vermieden. Darum ein erstes Kompliment, aber immer mit dieser Trotzdemeinschränkung, die die Vertagung dessen, um was es letzenendes ging, nämlich um Sex, zuließ.
Das Ganze hatte etwas von den Unverbindlichkeitsabonnements bei Haustürgeschäften. Zu guter letzt kam dann in der Regel noch ein „Heute Abend nicht“, gepaart mit der sogenannten Trotzdemtelefonnummer, mit deren Hilfe man ein zweites Treffen zu einer Trotzdemradtour oder einem Trotzdemkinobesuch ergattern konnte. Es war wie beim Lottospielen, die Gewinnchancen standen vielleicht etwas besser. Geredet wurde beim zweiten Zusammentreffen meist nur noch ein Bruchteil dessen, was am ersten Abend nötig war. Trotzdem kam man bei einer gewissen Hartnäckigkeit dann doch noch zu den selbstgekochten Trotzdemspaghetti mit anderthalb Flaschen Trotzdemrotwein.
Gabler erinnerte sich mit Schaudern an die wenigen Male, bei denen der all das bis zur völligen Sinnlosigkeit, dem ersten schönen aber oft auch letzten Trotzdembeischlaf durchexerziert hatte.
„Du warst sehr lieb, aber ich muß jetzt trotzdem gehen,“ hieß es am nächsten Morgen zu guter letzt.

Es war noch vor der Zeit mit Anne gewesen, als er versucht hatte, seine mit der Zeit abfallende Begeisterung für die Juristerei mit trotzigen Abenteuern zu kompensieren. Mit dem Tage seiner freiwilligen Exmatrikulation begann er zum ersten mal in seinem Leben darüber nachzudenken, ob er weiterhin ein Trotzkopf bleiben wollte. Das Fach selbst hatte ihn nie interessiert, er hatte es auf Anraten eines alten Freundes der Familie gewählt. Nach seinem Ausscheiden, aufgrund dessen ihn damals seine gesamte Umwelt für verrückt erklärt hatte, arbeitete er dann fast ein Jahr lang als Lastwagenfahrer in einer Kiesfabrik. Hunderte von Stunden fuhr er von einer Wand, an der der Kies abgebaut wurde, zu einem Förderbband, an dem er abkippen mußte und von dort wieder zurück zur Kieswand.
Jeder Tag hatte exakt siebendreiviertel Stunden lang zwei Inhalte: Aufladen und Abkippen. Es war so wundervoll einfach gewesen. Er lebte ohne Beziehung, und war trotzdem glücklich gewesen. Erst als er Anne kennengelernt hatte, begann er seinen Alltag wieder den intellektuellen Dingen des Lebens zu widmen.
Was hatte er nun davon?- Ein neues Problem, nämlich den sogenannten Trotzdemalkoholismus, einer Berufskrankheit sämtlicher mittelmäßiger Journalisten, die sich für etwas Besseres als den Rest der Welt hielten, aber die dennoch vorhandenen Minderwertigkeitskomplexe mit oft radikaler Konsequenz zu ertränken versuchten.
„Auch Du mein Sohn Brutus“ dachte Gabler und goß sich den zweiten Obstler in den Kaffeebecher.
„Wenigstens kein Froschbier,“ dachte er noch bevor er das widerwärtige Gemisch seine Kehle passieren ließ.
Die germanistische Diplomblüte bereitete ihm Kopfzerbrechen. Seine Telefonnummer hatte er bereitwillig weitergereicht, bevor er als einer der letzten Gäste die Posse verlassen hatte. Jetzt erinnerte er sich auch daran, daß er zu Fuß nach Hause gegangen war, er hatte kein Geld mehr für ein Taxi gehabt.
„Konnte ich überhaupt noch gerade laufen, “ dachte er dabei, „oder war es ein Stolpern?“
FRAG-rotes Kunstleder-Wangenkuß-Ich ruf Dich an.- Die vier seichtesten Belanglosigkeiten, seit es in der Stadt gelbe Neonröhren gab. Vielleicht würde sie ja anrufen, auch wenn er kein Handy hatte. Gerade trotzdem.
Gabler schüttelte den Kopf. Aus der Sache Stratchmini war nichts geworden und es würde auch in Zukunft nichts daraus werden.

Er stockte.
„Die Sache Stratchmini.“ Immer noch diese juristischen Termini in seinem Kopf. Was für Worte waren das nur? Es klang wie „Die Sache Froschbier.“
Gabler war von den eigenen Gedanken mittlerweile genauso angeekelt wie von seiner Umwelt. Ihm wurde schlecht. Er schaffte es gerade noch ins Badezimmer, bevor er sich übergeben mußte.

Alles schien wie ein endlos langer Gang zu sein, der in dieses rosarote Sackgassen-T mündete. Gabler selbst konnte dabei nicht mehr gerade gehen, er begann zu stolpern. Auch jetzt, da er wieder so gut wie nüchtern war. Vielleicht gerade jetzt. Alles um ihn herum zeichnete sich aus durch eine bedrückende Leere. Gedanken waren zu Gebilden geworden, die alles an Dinglichkeit zu ersetzen hatten. Die Gegenstände verloren ihre Bedeutung. Gabler hätte blind sein können oder taub, nichts hätte sich geändert.
Die unmittelbare Umgebung fühlte sich an wie Schmierseife.
Den Großteil seiner Klamotten hatte Gabler vor einigen Tagen kiloweise in den Sammelcontainer des Roten Kreuzes geworfen; übrig geblieben war das Nötigste an Unterwäsche und Socken, ein paar wenige ohnehin abgetragene Hemden und Hosen, ein teuer bezahltes Jackett aus den Zeiten, als er sich so etwas noch leisten konnte, ein alter Trenchcoat.
Schmierseife waren die wenigen noch übrig gebliebenen Dinge in der Wohnung, in der er vor kurzem noch mit Anne zusammen gewesen war; Schmierseife war die Kücheneinrichtung, Schmierseife waren vor allem die Fotoalben, die er mit viel Liebe geklebt hatte. Die Bilder von sich und Anne liefen die wenigen Male, als er sie noch anschaute an ihm herunter wie billiges Sonnenöl.
„Schlechte Erinnerungen sind rutschig wie Bananenschalen und gefährlicher als eine Flasche schwarz gebrannten Biobstlers“, dachte Gabler.

Schlendern.
Früher war er ein Schlenderer gewesen. Schlendern war auch eine der Lieblingsbeschäftigungen von ihm und Anne gewesen. Abends, wenn Sie Zeit dazu hatten, machten sie Spaziergänge in die Innenstadt, schauten sich die Plakate der Kinos an oder Schaufenster. Alles war irgendwie leicht gewesen: Die Filme, die sie sich gemeinsam anschauten, die Schuhe, die zu schick und ohnehin zu teuer waren, diejenigen, die man sich leisten konnte, und hin und wieder auch kaufte. Zu billig durften sie nicht sein, Anne hatte in diesem Punkt wie in vielen anderen auch ihre festen Vorstellungen. Es war eine mittelmäßige Leichtigkeit. Eine, die ihrer beider Durchschnittlichlichkeit entsprach. Sie studierte noch, arbeitete halbtags in einem der Büros eines ortsansässigen Elektronikmultis, er war arbeitslos, konnte sich aber mit seiner Schreiberei für die Zeitung finanziell einigermaßen über Wasser halten. Buchkritiken. Das paßte Anne gerade noch. Hätte er im Lokalressort über die Jahreshauptversammlung des städtischen Blasorchesters berichten müssen, wäre es vermutlich früher zu der Trennung gekommen, unter der Gabler mehr als ihm lieb war zu leiden hatte.

Das Telefon klingelte. Cornelia war am Apparat. Sie war Annes Vorgängerin gewesen, lebte inzwischen in Bayern als Regieassistentin. Über Jahre hinweg meldete sie sich noch in unregelmäßigen Abständen. Anne hatte das immer auf die Palme gebracht, Gabler hatte sich jedesmal tagelang dafür rechtfertigen müssen.
Sie sei gerade in der Stadt, ob er Lust hätte, sich mit ihr zu treffen.

„Hallo, hier ist die Cornelia, wie gehts Dir? Hast Du Lust heute spazieren zu gehen, das Wetter ist wunderschön draußen?“
„Nein Cornelia, ich habe keine Lust und auch keine Zeit.“ (Hatte ich Zeit?- mehr als genug)
„Warum nicht?“
„Weil ich arbeiten muß“
„Arbeitest Du noch immer an deiner Prüfung?“
„Nein Cornelia, ich sitze am Klavier?“
„Kannst Du inzwischen sehr gut Klavier spielen?“
„Warum?“
„Ja weißt Du, der Hellmut, der spielt sehr gut, ich höre ihm gerne zu.“
„Ach was, der Hellmut. Das freut mich für Dich.“ (Hellmut der Depp)
„Besuchst Du mich wieder einmal?“
„Vielleicht. Du kannst auch mich besuchen kommen.“
„Aber nur wenn der Hellmut mitkommen darf.“
„Nein, das möchte ich nicht.“
„Warum nicht.“
„Weil ich den Hellmut nicht leiden kann.“
„Aber du kennst du doch gar nicht.“
„Ich will ihn auch nicht kenennlernen.“
„Also dann, bis zum nächsten mal.“

Inzwischen war das mittelmäßig dahinschlendernde Leben ein Schlauch geworden. Morgens drehte irgendeine unbekannte Größe den Hahnen auf, irgendeine unbekannte Flüssigkeit ohne Geschmack und Farbe strömte tagsüber durch den Körper hindurch, entleerte sich an irgendeinen unbekannten Ort. Die Zeit wurde zu irgendeiner Unbekannten. Alles war irgendwie ein unbekanntes Nichts. Leer, öde und konturlos.
Gabler vergaß, daß man einen Schlauch bei durchlaufendem Wasser festzuhalten hatte. Sein Hirn begann wild im Garten der Alltäglichkeit hin und herzusausen.

Absinth, Halluzinationen, Absinth.
Kurz nach der Trennung von Anne begann Gabler nicht mehr nur in Kneipen, sondern auch innerhalb der eigenen Wohnung, die nach dem Verkauf der meisten gemeinsamen Möbel so gut wie leer war, massiv zu trinken. Trinken war eigentlich der falsche Ausdruck, denn die trotzige Vehemenz, mit der er sich den schwarzgebrannten Obstler, den er auf einem Bauernhof literweise erstanden hatte, in sich hineinkippte, führte binnen weniger Tage zu merkwürdigen Zuständen.
„Trotzkopf,“ dachte er anfangs noch bei den ersten Gläsern. Inzwischen hatte es sich eingebürgert, daß er das Zeug morgens zusammen mit der ersten tasse Kaffee zu sich nahm.
„Macht nix,“ dachte er dabei. „Runter damit.“
Kurz bevor Anne beiläufig in einem Nebensatz ihre Trennungsabsicht bekanntgegeben hatte, war sie selbst noch so etwas wie stolz auf das Zeug gewesen. Ab und an nahm sie selbst gerne einen Kleinen zu sich. Die Tatsache, daß es sich um ein sogenanntes reines Naturprodukt handelte, entsprach ihrem Understatement. Sie haßte Schafswollpullover, doch bei Lebensmitteln, und im weitesten Sinne konnte man den Fusel in diese Kategorie einordnen, kannte sie kein Pardon. Alles Biologische durfte in den Körper hinein; so lange man am Körper nichts davon sehen konnte, war die Welt für sie in Ordnung.
Gabler dachte, als er noch dazu in der Lage war, an das Lautrec Bild vom Absinthtrinker. In irgendeiner Wochenendbeilage einer überregionalen Zeitung hatte er es zuletzt gesehen. Mir doch nicht, hatte er damals gedacht. In der Kunstkritik bespreche ich solche Sachen, hatte er gedacht. Schließlich habe ich als Arbeitsloser mit journalistischem Nebenverdienst -so stellte Anne ihn ab und zu neuen Bekannten vor- einen Ruf zu verlieren. Über Bilder oder Bücher, selbstredend über Theaterstücke, die Elendiges zum Inhalt hatten, redete man gerne. Sobald sich im eigenen täglichen Leben auch nur die geringste Spur davon zeigte, hatte man sich tunlichst an seinen Status zu erinnern.

In dieser Hinsicht war Gabler im Laufe der letzten Jahre domestiziert worden. Es handelte sich um jene ihm in der Zwischenzeit widerwärtig gewordene Gesinnung derer, die gerne bereit waren zu helfen oder zu spenden, so lange der gute Zweck draußen vor der Tür blieb. Anne hatte sie ihm anerzogen.
„Solange es uns doch gut geht,“ hatte sie öfter gesagt.

Der Biobstler in seiner tückischen dynamischen Reinheit begann Wirkung zu zeigen.
Morgens, wenn Gabler bei seinem obligatorischen Gang ins nächstgelegene Einkaufszentrum die Zeitung kaufte, um anschließend beim Franzosen einen Espresso zu nehmen und dabei seine auf der Kulturseite erschienenen Artikel auf Druckfehler zu durchsuchen, begannen die gewohnten Bilder im Bezug auf ihre Farben in eigenartiger Weise verzerrt zu wirken.
Die Jacke des Zeitungsverkäufers nahm die Farbe derer des Biobauerns an. Aus blau wurde grau, Gablers Lieblingsazur trat immer mehr hinter dem klassischen Blockwartspastell zurück. Der Hausmeister begann ihn zu grüßen, während die blauen Augen von Anne aus seinem Leben verschwunden waren. Selbst seine Gesichtsfarbe mutierte. Einst von einer auch von Gesundheit zeugender dezenten Bräune geziert, auf die er immer ein wenig stolz gewesen war, mied er nach einiger Zeit den Badezimmerspiegel. Irgendwann war er zu der Überzeugung gelangt, daß ihn ein Stück grober Bioleberwurst anschaute.- Kompakt, fett und mit Darm.
Rot, die Farbe, der er eher neutral gegenüberstand, war inexistent.
Grün ganze Sonnensysteme entfernt.

Überall tauchten plötzlich Menschen auf, deren Gesichter er schon zu kennen glaubte. Zum ersten mal begann er sich zu fragen, ob die Welt nur aus Doppelgängern bestand.
Sein Bekanntenkreis, den er sich im Laufe der fünf Jahre, die er nun schon in der Stadt wohnhaft war, teils in mühsamer Kleinarbeit aufgebaut hatte, begann sich von ihm zu distanzieren. Mit dem Moment, wo diese Kontakte abgebrochen waren, lebten die selben Leute woanders wieder auf. Sie hatten etwas andere Gesichter, doch die Unterschiede waren geringfügig. Meist so geringfügig, daß Martin wie Michael oder Gabi wie Alexandra aussahen. Lediglich die Namen hatten sich verändert. Die ohnehin mit der Zeit karg gewordenen Dialoge waren austauschbar geworden.

So austauschbar und sparsam wie die Mentalität von Hochschulabsolventen, die mit ihrem Studium ebenso abgeschlossen hatten, wie mit den unrentabel gewordenen Pizzateig-Feten in selbstgemachtem Knoblauchjoghurt.
Studienabschluß, Lebensversicherungsabschluß, Beziehungsabschluß. Ein Abschluß paßte zum anderen, nahtlos gewissermaßen gaben sich die verschiedenen Abschlüsse die Klinke in die Hand. Bereit dazu, eine Türe zu öffnen und sofort hinter sich wieder zuzuknallen.

Abgeschlossen.
Längere Zeit schon lebte Gabler nun alleine im größten der drei Zimmer der Dachwohnung. Es handelte sich um das alte gemeinsame Wohnzimmer. Altbau. Von Anfang an war er ein wenig stolz darauf gewesen. Es war so etwas wie das gemeinsame Kleinod von ihm und Anne. Er selbst hatte höchstpersönlich die alten Dielen abgeschliffen, tagelange Arbeit geleistet. Das Zimmer war das größte und hellste von allen. Öffnete man die Türe zu Annes altem Arbeitszimmer, befand man sich in einem lichtdurchflutendem Raum. Große Fenster nach Osten und Westen. Hier hatte man an einem großen alten Eßtisch Gäste empfangen, abwechselnd hatten Gabler selbst und Anne ihr Kochkünste unter Beweis gestellt. Meist waren es drei-oder viergängige Menues gewesen, mit so exotischen Nachtischen wie Orangensorbet auf Armagnac oder selbstgemachtem Tiramisu mit Pistazienkernen. Gabler liebte das Kochen. Es hatte sich so eingebürgert, daß er an den meisten Tagen das Essen machte. Im Laufe der Zeit hatte er für sich selbst ein kleines Kochbuch zusammengestellt. Einige der Rezepte hatte er von seiner Mutter erfragt, andere selbst erfunden. Es machte ihm Spaß, nie und nimmer hätte er daran gedacht, daß Anne ihm diese zwei Stunden, die er jeden Tag mit Einkaufen und dem Zubereiten des Essens zubrachte irgendwann als verlorene Zeit vorhalten würde.
„Statt zu kochen hättest Du Dir gescheiter einen Job gesucht“, hatte sie kurz vor ihrem Auszug einmal zu ihm gesagt. Es war eine der zahlreichen Vorhaltungen, die er sich nach drei Jahren des Zusammenlebens anhören mußte.
Arbeitsteilung in der Beziehung hatte es anfangs noch geheißen. Im Laufe der Zeit sah das ganze so aus, daß Gabler einkaufte, kochte, abspülte, Annes Wäsche mitwusch, die gesamte Wohnung reinigte.

Sie ging währenddessen ihrem Job nach, redete nachmittags mehr von ihrem Diplom, als daß sie sich tatsächlich damit beschäftigte und machte in unregelmäßigen Abständen am Abend Gabler Vorhaltungen, daß er vor Jahren noch auf seinen universitären Abschluß verzichtet hatte. In Ihrem Statusdenken war Anne derartig kompromißlos, daß es deswegen öfter zum Streit zwischen Ihnen kam.
„Wenn Du doch nur…“ hörte er sie heute noch.

Er hätte eigentlich viel früher schon merken müssen, daß er der Falsche für sie war. Sie sehnte sich nach einem promovierten Germanisten oder zumindest einem BWLer mit Diplomabschluß. Das war das Mindeste. Ihm fehlte das gewisse professorale Etwas. Jene sozialkritische Leichtigkeit, mit der die heutigen Diplomanten an ihren Gesprächspartnern vorbei, und während einer Unterhaltung über den notwendigen Notendurchschnitt für einen Job mit kalkulatorischen Dollaraugen in weite Ferne nach vorn -blickten. Selbst die Tatsache, daß Gabler sich auf Drängen von Anne eine Brille zulegte, die er eigentlich gar nicht gebraucht hätte, änderte nichts an seiner Unfähigkeit, in finanziellen Dingen die notwendige Weitsicht zu erlangen. Anne hatte das von Anfang an gekonnt. Gabler hätte wissen müssen, daß sie in den seltenen Momenten, in denen sie wie aus heiterem Himmel durch einen Kuß ihre Zuneigung kundtat, weil ihr das Essen geschmeckt hatte, dies meist mit dem anschließenden Blick an ihm vorbei aus dem Fenster tat.
„Ach ja.“ Es war, wie wenn sie ihre Worte an einen unbekannten Prinzen richten würde, der draußen auf seinem Pferd durch die Luft schwebte.
„Kochen kannst Du ja ganz gut, aber irgendwann kommt er,“ so ähnlich klang das immer.

Gabler saß auf der Matraze des alten Bettes, einer der wenigen Requisiten, die vom gemeinsamen Hausstand noch übrig geblieben waren. Das Bett selbst war für fünfzig Mark an ein frisch verliebtes Paar gegangen. Am liebsten hätte er seine bei der Abholung ausgesprochenen Glückwünsche unterlassen.
Als Anne und er zum letzten mal miteinander geschlafen hatten, sagte sie zu ihm, er könne ja auch gemein sein. Tagelang hatte er darüber nachgegrübelt, was sie wohl damit gemeint hatte. Zwei Wochen danach kam die Kündigung.

Unter der Matraze standen sechs Kisten voller Bücher. Es waren zum Großteil diejenigen, die Gabler für die Zeitung besprochen hatte. In der Hauptsache Belletristik. Gegenüber an der Wand stand noch ein alter Kleiderschrank, daneben auf dem Boden die alte Stereoanlage, ein paar alte Schallplatten und ein billiger gebrauchter PC. Gabler hatte ihn sich nach der Trennung kaufen müssen, um weiter für die Zeitung schreiben zu können. zu Hause konnte er sich besser konzentrieren als in der Redaktion. Anne hatte ihren selbstverständlich mitgenommen.
Als sie beide zusammen den Hausrat getrennt hatten, so wie man etwas eben noch zusammen trennen kann, legte sie die Genauigkeit eines Lohnbuchhalters an den Tag. Ihr PC war nie Gegenstand von Diskussionen gewesen. Er war neben dem Bauernschreibtisch, den Gabler für sie restauriert hatte ihr einziges Heiligtum. Bezahlt hatte ihn Annes Vater. Ausnahmsweise, wie sie immer betonte, denn sie legte großen Wert auf ihre finanzielle Unabhängigkeit. Jedesmal wenn Gabler sie zum Kaffee einlud, mußte er sich rechtfertigen. Von Besuchen bei ihrem alten Herrn kam sie meist mit einer neuen Garnitur sündhaft teurer Klamotten zurück. Die Großzügigkeit, mit der sie diese Geschenke annahm stand ganz im Einklang mit der halben Stunde, während derer sie Gabler vorrechnete, wieviel er ihr nach der Trennung schuldig blieb. Sie war sogar so schlau gewesen, auf alle gemeinsam angeschafften Dinge zu verzichten, solange sie die Hälfte des dafür bezahlten Preises erhalten würde. Gabler, zu dieser Zeit ohnehin mit seinem Dispo im roten Bereich, machte all das artig mit. Er hatte nach Annes Beziehungskündigung, wie er es für sich selbst nannte, den Bezug zum Geld endgültig verloren. Stillschweigend legte er ihr nach dem letzten gemeinsamen Gespräch hunderte von Mark auf den Tisch, ohne sich darüber im Klaren zu sein, daß er das Geld eigentlich gar nicht zur Verfügung hatte. Sein Sachbearbeiter auf der Bank hatte ein letztes mal Gnade walten lassen. Das Ende mit Schrecken war absehbar.
„Die Schöpfkelle haben wir doch auch zusammen gekauft,“ hörte er sie noch sagen.
Fünf Jahre Beziehung wurden reduziert auf Viermarkfünfzig. Es war absurd.
Im Moment hatte Gabler in seinem Geldbeutel nicht einmal mehr diese Viermarkfünfzig übrig. Er war dermaßen pleite, daß er daran dachte, das Rauchen aufzugeben. Anfangs war er noch der Überzeugung gewesen, die Wohnung alleine halten zu können.

Vollkommen zwecklos, dachte er nun. Die Fähigkeit des korrekten Zusammenzählens von eins und eins zu verlieren konnte gefährlich werden. Er nahm einen Kaffee mit Bioobstler und räumte die wenigen Sachen, die noch in den beiden anderen Zimmern standen zusammen. Einen lila Wäscheständer, Wert nach Abzug von dreijährigem Gebrauch zwölf Mark, einen alten Kaffeehausstuhl und einen Globus mit defekter Innenbeleuchtung.

Ich werde eine WG machen, dachte Gabler bei sich. Eine WG ist immer gut. In WGs habe ich mich schon früher immer wohl gefühlt.
Er schloß eine der beiden Türen zum Wohnzimmer und stellte fest, daß man diese Tür von beiden Seiten auf-und zuschließen konnte. Es war kurios, so kurios, daß er zum ersten mal darüber nachdachte, was Schlösser an Türen für eine Bedeutung hatten. Abgesehen davon, daß Gabler sich selbst abgeschlossen fühlte, im Grunde genommen eingeschlossen, war er dem Phänomen noch nie nachgegangen.
An sich waren sie dazu vorgesehen, den Menschen Schutz zu bieten, doch was für einen Sinn sollten Türen haben, die man nur von einer Seite auf und zuschließen konnte. Bei einer genaueren Betrachtung der Sache bemerkte er, daß es sich hier um ein Schloß handelte, welches man von einer Seite zuschließen oder auch aufschließen konnte, selbst wenn es von der anderen Seite bereits zu-oder aufgeschlossen waren. Ein Umstand, den er sich nicht erklären konnte.
Aus dieser Verwunderung, vielmehr Unkenntnis der Sachlage bezüglich des Türschlosses in seiner Wohnung erwuchs bei Gabler das Gefühl, in einem freien Raum zu sein, der jedoch durch die Tatsache, daß es ein Raum ohne Ein-und Ausgang war, zu der Flucht in Gestalt eines Ganges wurde.
Er knallte die beiden Türen zu und leerte die Tasse mit dem Kaffee-Schnaps-Gemisch.
Da waren sie wieder. Die zwei neuesten Komponenten in seinem Dasein: Gang und Schlauch. Eine dritte kam hinzu. Es war diese Wohnzelle, in der er sich jetzt befand. All das schien in einer Art Nadel ohne Öhr zu münden.
„Existenzielle Einbahnstraße,“ dachte er. „Quatsch, von wegen existenziell.“
Gabler begann in einem der Bücher zu blättern, die er in nächster Zeit zu rezensieren hatte. Eine Liebesgeschichte. Nick und Lene, die mit Freunden ein gemeinsames Wochenende in einem Landhaus verbrachten.

Gemeinsame Freunde. Gab es die noch?-
Seit Wochen hatte sich niemand mehr bei ihm gemeldet. Als Gabler vor einigen Tagen Kurt anrief, der während der letzten fünf Jahre immer so etwas wie eine treue Seele gewesen war, meinte dieser in genervtem Ton, er habe keine Zeit und legte auf. Es war der dritte einer Reihe von Anrufen. Beim zweiten mal hatte er seltsamerweise ins Bodybuilding gemußt. Vor Wochen, als Gabler ihn das erste mal telefonisch um moralische Unterstützung gebeten hatte, hatte Kurt schon angedeutet, daß er sich auf die Seite von Anne geschlagen habe. Er glaube, sie sei im Recht. Eine Erklärung für diese Ansicht hatte er keine. Das entsprach seinem Naturell. Alles war so wie’s zu sein hat, basta.
Ging es hier eigentlich ums Rechthaben? Gabler legte das Buch wieder zur Seite.

Er dachte an seine Studienzeit. Damals war er in seiner Funktion als AStA-Mensch an der Uni in ein weitverzweigtes Netz von Freunden und Bekannten eingesponnen gewesen. Zehn Jahre waren seither vergangen. Selten bekam man sich gegenseitig noch zu Gesicht. Die Namen waren zu Gespenstern geworden, die ab und an durch das Gedächtnis spukten. Selbst schöne Erinnerungen begannen wie Mumien zu schrumpfen.

Vor einigen Wochen war er zufällig in einer Kneipe seiner Heimatstadt einem alten Schulkameraden über den Weg gelaufen. Die verkrampften Erinnerungen an frühere Zeiten wurden eingeleitet mit einer Mischung aus bemüht kraftvollem Händedrücken und den peinlichen Fragen nach der Befindlichkeit in den Kategorien Beruf, Bett und Bierkonsum. Uwe hatte in allen drei Bereichen voll reüssiert, wie man heute so schön sagt. Er war inzwischen Anwalt geworden und lebte zusammen mit seiner Freundin in Beiwohnung, wie er sich ausdrückte. Freundin, da war das Wort wieder. Und das mit sechsunddreißig. Und dann auch noch in Beiwohnung. Lächerlich. Gabler kam sich vor wie damals während der Tanzschule. Seine Ute sei die Erste, in dieser Hinsicht hätte er eben etwas spät gezündet. Aber dafür klappe es beim Sex um so besser, meinte er dann noch allen Ernstes. Saufen konnte er früher schon besser als Gabler, das hatte er unter anderem seinen neunzig Kilo zu verdanken. Manchmal veränderte sich im Laufe des Abends die Reihenfolge der Themen, manchmal brachte man die drei magischen Begriffe sogar ansatzweise in einen Zusammenhang. Es war grotesk.

Doch statt Gabler nach dem üblichen „Hallo, wie geht’s“ seiner Wege gezogen war, verfiel er in eine seiner berühmten Schwächen: Er hörte zwei geschlagene Stunden zu. Interessieren tat es ihn nicht die Spur, aber statt dementsprechend zu reagieren, verplemperte er einen ganzen Abend für nichts und wieder nichts.
Aufgrund der Angewohnheit, den Problemen seiner Mitmenschen zuviel Aufmerksamkeit zu schenken, geriet er schneller, als er es für möglich hielt und vor allem als es ihm hätte lieb hätte sein können in den Sog einer Kombination von Dauergeschwätz über Arbeitslosigkeit mit seinem Therapeuten, die ersparten Beträge der Lebensversicherung aufzehrenden Besuchen bei einer Prostituierten und dem schließlich fast tödlich endenden Rückfall in eine spätpubertäre Ich-kann-auch-mitsaufen-Bierphase während sinnlosen Kneipenabenden.
Bier, Wein, Bioobstler. Die Kurve führte in extrapolierender Weise nach oben.
Hätte er in der Therapie, durch die er sich seit Jahren quälte, mehr über die Beziehung zu Anne geredet, mit der Prostituierten, die er zweimal besucht hatte, und die ihn danach tatsächlich auflauerte, „weil sie gerne mit ihm zusammen war,“ wie sie es ausdrückte, einen Schnaps zum Ende gut alles gut getrunken, und sich last but not least ernsthaft um einen Job bemüht- er hätte sich einiges damit ersparen können.
Stattdessen isolierte er sich.
Nachts in seinen Träumen hörte er Stimmen ohne die passenden Gesichter zu sehen, tagsüber redete er selten mehr als ein paar überlebensnotwendige Sätze. Geräusche wie Straßenlärm, Sirenengeheul, Hundebellen oder das Knacken der Heizung waren inzwischen zu den Dominanten des Alltags geworden.

Das Knacken der Heizung.- Es machte ihn wahnsinnig, bis er bemerkte, daß diese Aufregung aus einem trügerischen Bedürfnis nach Ruhe kam. Er wollte schlafen, nur noch schlafen, niemanden mehr sehen, mit niemandem mehr sprechen. Es war beinahe irre. Beinahe. Und es war kalt.
Kalt, obwohl die Heizung in Betrieb war.

Das Frieren ist ein ungeheurer Zustand, die Chemie des Körpers gerät aus den Fugen, Brennstoffe werden verzehrt von Sauerstoff, der Sauerstoff verzehrt die klare Sicht, die Grenzen der Physik reduzieren sich auf eine ungeheure Bewegungsarmut, was wiederum zur Dauermüdigkeit führt.
„Müde zu sein und dabei auch noch zu frieren ist ein Paradoxon“, hörte Gabler die Bäckereifachverkäuferin sagen. Die junge Frau im weißen Kittel übte mehr Autorität auf ihn aus als sein Psychiater mit seinen Calvin Klein-Jeans. Zu gerne hätte er sich dieser Person hinter dem Quarkstreuseltresen in tiefgehender Weise anvertraut. Doch selbst als sie ihn einmal eines Morgens nach seinem Befinden gefragt hatte, war er außer Stande gewesen, zu antworten, geschweige denn die Frage zurückzugeben. Eher verstört als erfreut verließ er die Bäckerei wieder nach draußen.
„An der frischen Luft gähnt man gerne,“ hörte Gabler sie noch hinter ihm herrufen, „doch meist nur, wenn man sich auf der Durchgangsstation an die nächste frische Luft befindet. Merken Sie sich das, sie Idiot.“
Die Frau im weißen Kittel wurde zu einer Art Zensor. Mit ihr mußte Gabler sich auseinandersetzen, nicht mit Anne, Uwe oder seinem Therapeuten.

Er dachte an das Wort Verfall.-
Die Milch im Kühlschrank war sauer; Gablers Klamotten erinnerten ihn bei den täglichen Kontrollen in den Spiegeln von Geschäften der Innenstadt, die er wegen seines „finanziellen Engpasses“, wie es seine im Verdienst stehende Umwelt bezeichnete, nur noch von außen sah, an uralte Kinderzeiten: Man hatte ihm damals, als er in der Schule von seinem ohnehin schon sonderbar anmutenden Einsnullerschnitt auf einen Zweierschnitt degeneriert war, plötzlich einen Stil aufgenötigt, der aus einer Mischung von gerade noch tragbaren Kleiderresten der älteren Geschwister und billigen Geschenken der Kleidersammlung aus der Fabrik seines Vaters bestand.
Noch im Alter von fünfundzwanzig Jahren, als er sich bereits zum ersten male innerhalb der Familie über seine bis heute andauernde Kinderlosigkeit zu rechtfertigen hatte, bekam er aus dem Fonds einer Bekannten seiner Eltern, die auf dem städtischen Sozialamt tätig war, sogenannte „fehlerhafte“ Unterhosen geschenkt. Sie seien in der Fabrik ausrangiert worden und ursprünglich für Asylanten gedacht, hieß es damals. Doch sicher könne er so etwas ja gebrauchen. Mit dieser manchmal an karitativer Unverschämtheit grenzenden Arroganz wurde er mit zunehmendem Alter öfter konfrontiert, als ihm lieb war.

Verfall. Verfallsdatum.
Saure Milch, vertrocknetes Gemüse und das Outfit vom Lieblingsanwalt seiner Mutter, den selbige während einer Vorabendserie im staatlichen Fernsehen in ihr Herz geschlossen hatte, waren Attribute, die ihn vergessen ließen, daß zwischen dem Anspruch, auch als erfolgloser Journalist, der gelegentlich einige Gedichte schrieb, ernst genommen zu werden, und den Rosinen in den Brötchen der Bäckereifachverkäuferin im Grunde nur ein kleiner Unterschied bestand, dem er jedoch bis dato noch niemals auf den Grund gegangen war.
„Bis dato,“ dachte Gabler. So wie bisher konnte er nicht weitermachen, das war ihm klar. immerhin etwas.
Die Gespräche, die er führte, waren in der Zwischenzeit reduziert auf die Worte „Bitte, Danke“ im Zeitungsladen und „Bitteschön und Dankeschön“ beim Kauf der Brötchen in der Bäckerei. Wenn er die Marke der Zigaretten wechselte, kamen manchesmal noch die Worte „Die Blauen bitte“ aus seinem Mund.
Gelegentliche Telefonate, deren Inhalt er sich entweder nicht mehr merken konnte, oder die von so kurzer Dauer waren, daß man über einige lapidare Wortwiederholungen nicht mehr hinauskam.
Beängstigend oder auch beklemmend empfand er diese Situation, doch es erschien ihm immer noch am besten, den Weg nicht mehr zurückzugehen, sondern nach vorne. Eine WG, neue Leute, vielleicht ein neuer Job. Auf Dauer konnte er sich mit dem Zeilenhonorar eh nicht über Wasser halten. Irgendetwas mußte geschehen. Eine Art Umwälzung. Genau. So wie damals, als die Mauer fiel. Von Grund auf mußten sich die Zustände verändern. Von Grund auf und nach vorne ist immer gut, dachte Gabler. Wohin ist erstmal sekundär. Eine Flucht aus der Einsamkeit. Das war der entscheidende Punkt. Er beschloß, sich selbst an die frische Luft zu setzen. Sich auszuschließen von der inneren Emigration, der er verfallen war.
„Nach vorne emigrieren,“ hörte er vor dem Einschlafen eine Stimme. „Achten Sie auf das Verfallsdatum Ihrer Leber.“

Am nächten Morgen, als Gabler nach dem Aufstehen seine guten Vorsätze in die Tat umsetzen wollte, mußte er als erstes feststellen, daß das Telefon abgestellt war. Er hatte die Rechnung noch nicht bezahlt, das heißt, er konnte sie gar nicht mehr bezahlen. Auf der Bank hatte man ihm bei seiner letzten Frage -das war inzwischen über eine Woche her- nach den obligatorischen zweihundert Mark, die meist acht Tage ausreichten, durch stummes Kopfschütteln bedeutet, daß man nicht länger dazu bereit war, seinen Dispositionskreditrahmen zu überziehen.
Gabler zog sich an und verließ die Wohnung. Unten am Briefkasten war durch den Schlitz ein grünes Couvert auszumachen. Absender Stadtwerke. Er ließ die Strom-und Gasrechnung dort wo sie hingehörte, zog aus der rechten Manteltasche eine leere Zigarettenpackung heraus, warf sie in den Müllcontainer und ging in Richtung Uferpromenade. Dort hatte er in letzter Zeit eine Bank ausgemacht, auf der er öfter schon gesessen war und still für sich nachgedacht hatte. Unterwegs wollte er sich in der Bäckerei noch eine Nußschnecke kaufen. Sinnloses Unterfangen, stellte er bei der Kontrolle seines Portemoines fest. Für sechzig Pfennig gab es gerade noch eine Brezel. Er verzichtete. Vielleicht wurde er demnächst noch verhaftet und brauchte dann die sechs Groschen, um einen Anwalt anzurufen. Gewundert hätte es ihn zu dem Zeitpunkt nicht.
Ähnliches hatte er bereits Jahre zuvor während seiner Berliner Zeit schon einmal erlebt. Damals, es war kurz vor Öffnung der Mauer gewesen, hatte er einige Tage vor seinem juristischen Staatsexamen den Boden unter den Füßen verloren. Tagelang war er zusammen mit zwei quartierbekannten Pennern vor der Markthalle gesessen und hatte in aller Seelenruhe die Frist für die Prüfung verstreichen lassen. Sein Einreichungsschnitt war so gut gewesen, daß es ihm für eine Anstellung in den Staatsdienst gereicht hätte. Gabler verzichtete zugunsten billigen Lambruscos und kam erst wieder zur Besinnung, als er zum ersten mal in seinem Leben eine Nacht in der Ausnüchterungszelle des Polizeireviers verbringen mußte. Nach dem Beginn einer Therapie fing er sich wieder, orientierte sich beruflich um, wie man so schön sagt. Er wechselte das Fach und absolvierte ein Praktikum auf der chirurgischen Station im Krankenhaus seiner Geburtsstadt. Bis heute hatte er an dem abgebrochenen Studium zu beißen. Er kam zwar einige Jahre später durch Wiederaufnahme und das Ablegen einer gesonderten Prüfung in den Rang eines Magister Jur., doch bei der zunehmenden Anzahl arbeitsloser Juristen war dieser Titel so gut wie wertlos.

Auf dem Weg zum Seeufer glitt alles an ihm vorbei. In seltsamer Weise verloren Menschen, Häuser, Autos ihre Dinglichkeit. Alltagsgeräusche mischten sich zu einem undefinierbaren Einheitsunisono. Gabler nahm alles um ihn herum nur noch reduziert wahr. Er hatte das Gefühl, im luftleeren Raum zu schweben. Wäre er kurz vor der ersten Ampel nicht beinahe über den Dackel seiner Nachbarin gestolpert, hätte es gefährlich werden können. Das Tier hatte einen vermutlich von Pralinen vollgestopften Hängebauch. Widerlich, dachte Gabler. Er sah auf das rote Männchen der Fußgängerampel, das sich in rhythmischen Bewegungen auf ihn zu und wieder von ihm wegbewegte. Gehen Sie nicht über Los, ziehen Sie nicht 4.000DM ein, dachte er. Das Leben war ein Monopolyspiel, und er saß auf der Badstraße fest. Verschuldet und für den Rest der Menschheit zum Abschuß bereit.

Am Seeufer angelangt setzte er sich auf die Parkbank. Er fror. Seine Hände waren eiskalt; obwohl er mehrere Pullover und seinen warmen Mantel trug, zitterte er am ganzen Körper. Es war einer jener trügerischen Apriltage, an denen es plötzlich an der frischen Luft so eng wurde, daß es einem die Kehle zuschnüren konnte. Sein Zigarettenkonsum hatte in den letzten Tagen derart zugenommen, daß er morgens kaum noch Luft bekam.
Herzinfarkt, dachte Gabler. Mit einem Schlag würden sich alle Probleme lösen.
Er beobachtete sich selbst. Eine Art zweite Figur stand einige Meter neben ihm und schaute ihm beim Frieren zu. Das Kreischen der Möven mischte sich mit dem Knacken der Heizung in seiner Isolierzelle.
Genau. Isoliert war er. Nicht nur von Anne und dem Rest der Welt. Er war isoliert von sich selber.
Gabler sagte mehrmals die Worte „Guten Morgen“ zu sich selbst. Er wolte überprüfen, ob er überhaupt noch reden konnte. Um sicher zu gehen legte er den Zeigefinger seiner rechten Hand an die Unterlippe. „Guten Morgen“. Es funktionierte. Beim dritten mal kam es etwas lauter. Beim vierten und fünften mal übertönte Gabler das Kreischen der Möven. Gerade als er damit beginnen wollte, richtiggehend loszuschreien, weil er merkte, daß es ihm so gut wie nichts anderes in dem Moment tat, stockte er. Schräg hinter ihm stand ein älterer Herr, den er bis zu diesem Zeitpunkt nicht wahrgenommen hatte.

„Sind Sie sich eigentlich darüber im Klaren, daß unsere Welt eine Ansammlung von Molekülen ist,“ fragte dieser ihn plötzlich.
Der Alte war mit einem langen grauen Staubmantel bekleidet. Seine Schuhe waren abgelaufen, die ohnehin graue Farbe seines Gesichtes wurde unterstrichen durch schneeweiße Bartstoppeln, die die zahlreichen Falten fast gänzlich zudeckten.
„Ich habe Sie beobachtet und ich glaube, es geht Ihnen nicht besonders gut. Habe ich Recht?“
Er hatte Gabler von hinten angesprochen, und in dem Moment, als dieser sich nach seinem letzten „Guten Morgen“ umdrehte, um die seltsame Figur besser sehen zu können, machte der Alte eine ruckhafte Nachvorn-Bewegung mit seinem Oberkörper, als wolle er sich vor einem Publikum verneigen.
„Jedenfalls wünsche ich Ihnen einen guten Tag junger Mann.“
Ebenso schnell wie er aufgetaucht war drehte sich der Alte um und verschwand wieder.
War der Kerl verrückt?
Die Welt war voller Verrückter, das war für Gabler nichts Neues. Auch er selbst war es vielleicht, daß gestand er sich durchaus ein. Die Situationen, in denen er das Ziel von sinnentleerten Attacken irgendwelcher Unbekannten wurde, häuften sich. Immer öfter wurde er von fremden Leuten mitten auf der Straße angesprochen. Teils in freundlicher, teils in weniger freundlicher Manier. Das Absurde daran war, daß er von Freunden und in der Nachbarschaft -mit Ausnahme des Hausmeisters- so gut wie ignoriert wurde, während man ihm fernab seiner Wohnung, an irgendeiner Bushaltestelle oder auf einem der Seewege, die er regelmäßig entlangging, eine gewisse Aufmerksamkeit schenkte.
Es war ein seltsames Phänomen. Seltsam in einer Weise, daß die Welt immer kleiner zu werden schien. Um ihn herum platzte eine Nichts aus den Nähten.
Ein Raum also ohne Grenze, der ins Nichts führte.
Vielleicht hatte der Alte mit seiner Theorie von den Molekülen ja nicht ganz unrecht.
Gabler beschloß jedenfalls, ihn nicht für verrückt zu halten. Schon die Art, wie sich die Figur mit dem Staubmantel ihm als dem frierenden Häufchen Elend auf der Bank gewidmet hatte, machte auf ihn einen liebenswerten Eindruck. Er wollte noch hinter ihm hergehen und ihn nach seinem Namen fragen, doch es war zu spät. Der Mann war verschwunden.

Als Gabler sich noch einmal umdrehte fuhr ein Typ in seinem Alter, vielleicht ein paar Jahre jünger, auf seinen Inlinern an der Bank vorbei. Die Schweißperlen auf seiner Stirn standen im krassen Gegensatz zu Gablers inzwischen zu Zittern ausuferndem Frieren. Kurz hinter der Bank drehte er für zwei Mädchen, die ihm entgegenkamen eine kleine Pirouette, lächelte, und setzte seine Fahrt fort.
Gabler begann schlecht zu werden.
Als er das letzte Mal mit Anne hier am See spazieren gegangen war, hatte sie die nach seiner Ansicht ausufernde „Szeneseuche“ des Inlinerns, wie er es damals genannt hatte, für toll befunden. Die Leute seien eben irgendwie locker, klang es ihm noch im Ohr. Einen geschlagenen Sonntagnachmittag hatten sie anschließend damit zugebracht, sich über das Für und Wieder von Inlining zu unterhalten. Gabler hatte den Kürzeren gezogen. Seine Argumente von verkehrs- und gesundheitsgefährdend wurden irgendwann mit der doch etwas rigiden Feststellung aus dem Felde geschlagen, er sei verklemmt. Er begann zu schwanken. War er es vielleicht?-
Es dauerte einige Zeit, bis Gabler bemerkte, daß er in bedenklicher Weise unterkühlt war. Er beschloß, die sechzig Pfennig, die ihm noch geblieben waren in zwei Wasserbrötchen zu investieren, und in der Wohnung einen Kaffee zu sich zu nehmen, um sich aufzuwärmen. Als er sich von der Bank erhob um loszugehen, wurde er von hinten fast von dem Inliner überfahren.
„Arschloch“, dachte er.
Zu Hause angelangt, die Rechnung ließ er vorsichtshalber im Briefkasten, um nicht noch schlechtere Laune zu bekommen, als er sie eh’ schon hatte, stellte Gabler den Fernseher an. Wenn er schon nicht mehr telefonieren konnte, so blieb ihm doch das Recht, fernzusehen. Selbstredend war das Gerät nicht angemeldet. Hätte es in diesem Moment an der Türe geklingelt, und der Gebührenpolizist von der GEZ wäre vor ihm gestanden, es hätte ihn nicht gewundert. Jahrelang hatte Gabler über keinen Fernseher verfügt. Erst als Anne meinte, es wäre doch nicht schlecht, wenn man zum neuen Kühlschrank auch noch einen Fernseher hätte, hatte Gabler nachgegeben. All das war kurz vor der Kündigung Annes gewesen.

Genau. Gekündigt hatte sie ihm. In ihrer als Verwaltungsstudentin stinknüchternen Art hatte sie ihn in einem Nebensatz zwischen Tür und Angel vor die Tatsache gestellt, daß sie die gemeinsame Wohnung verlassen werde. Außerdem seien sie ab heute getrennt. Gabler hatte all das für einen schlechten Scherz gehalten. Er dachte zuerst, Anne würde blöffen. Erst als sie am Abend jenes denkwürdigen Tages nicht nach Hause kam, zog er die Ernsthaftigkeit der Entscheidung zumindest einmal in Betracht. Zwei Tage zuvor hatte er in der Küche einen neuen Wandtisch montiert, es war Annes ausdrücklicher Wunsch gewesen. Der alte Tisch sei häßlich, außerdem unpraktisch, hatte sie gemeint. Derartige Wünsche, ebenso die nach einem Fernsehgerät oder einem neuen Kühlschrank erfüllte Gabler stets postwendend. Vielleicht war das einer seiner Fehler gewesen.
Als er genauer darüber nachdachte stellte er fest, daß er eigentlich immer das getan hatte, was Anne von ihm verlangte. Er besah seine neuen Schuhe, die in einer Ecke des Zimmers standen und stellte fest, daß Anne sie noch vor ein par Wochen für ihn ausgesucht hatte. Ebenso den Trenchcoat, der am Boden lag.
Zum zweiten mal an diesem Tag wurde ihm schlecht.
„Ich glaube, die Frau hat mich konditioniert,“ dachte Gabler.

„Bist Du auch ganz sicher, daß es die richtige Entscheidung ist zu heiraten? Ich meine gerade jetzt, wo Du in der Firma…“
„Ja Liebling, der Zeitpunkt war noch nie so günstig. Und Du weißt doch, wie sehr ich Dich liebe.“
Auf einem der Privatsender wurden gerade die ersten Folgen von Dallas wiederholt. Gabler wollte aufstehen und das Gerät ausschalten, als ihm plötzlich schwarz vor den Augen wurde. Er mußte sich an der Wand des Flurs entlangtasten, um nicht umzufallen. In der Küche angelangt öffnete er den nagelneuen Kühlschrank. Ihm fiel ein, daß er vergessen hatte, mit seinem restlichen Geld die zwei Brötchen zu kaufen. Außer einer halbleeren Tube Senf war nichts mehr zu sehen. Beim Blick in den Vorratsschrank erinnerte er sich daran, daß er im Laufe der vergangenen Woche die Spaghettis gekocht hatte. Senfsauce gab es dazu. War das gestern gewesen, vorgestern, oder noch früher?-
Gablers Erinnerungsvermögen begann erste Lücken zu zeigen.
Mit der noch verschlossenen Mehltüte konnte er nichts anfangen. Kein Reis mehr, keine Kartofeln, nichts.

Als er den Kühlschrank wieder zumachte, stellte er fest, daß seine Körpertemperatur mit der im Innern des Gerätes nahezu identisch war. Er zitterte, ging zurück in sein Zimmer, zog seinen Trenchcoat an und legte sich angezogen wie er war unter die Bettdecke.

„Was mache ich eigentlich noch hier?“ dachte er. „Dem Pralinendackel der Nachbarin geht es ja noch besser.“

Neben der Matraze fand er noch eine halbvolle Schachtel Zigaretten. Gabler steckte sich eine Gauloises an, stand wieder auf, ging in die Küche, kochte einen Kaffee, gab den obligatorischen Bioobstler dazu, las eine wenig in der Zeitung vom letzten Wochenende, leerte den halben Becher in den Ausguß, ging wieder ins Bett, versuchte zu schlafen, wälzte sich hin und her, stand auf, goß sich wieder eine Tasse Kaffee ein, rauchte in der Küche, rauchte, bis die Zigarettenpackung leer war, ging nach unten auf die Straße an den Automaten, wollte in dem Irrglauben noch ein Fünfmarkstück in der Tasche zu haben eine neue Schachtel ziehen, ging ohne Zigaretten erneut in die Wohnung zurück, legte sich ins Bett, stand wieder auf. Inzwischen schwitzte er, aller Wahrscheinlichkeit nach aufgrund der Mischung von Zigaretten, Kaffee und Schnaps, die er zu sich genommen hatte.

Er ging ins Badezimmer, zog seinen Trenchcoat und sein Unterhemd aus, wusch und deodorierte sich, zog sich eine neues Unterhemd an. Er ging wieder in die Küche, kochte wieder Kaffee, gab wieder etwas Schnaps dazu. Beim Blick in den Spiegel mit freiem Oberkörper stellte Gabler fest, daß er einiges abgenommen hatte. Er war schon immer untergewichtig gewesen, inzwischen jedoch konnte er jede Rippe einzeln abzählen. Er hatte unglaublichen Appetit auf etwas Deftiges, gerne hätte er wieder einmal ein gutes Stück Fleisch zumindest nur gerochen, mit einer Beilage vielleicht, die ihn ein paar Gramm zunehmen ließ. Doch in seiner verborten, nimmerendenden Sturheit geriet er immer tiefer in diesen teuflischen Kreisel.
Gabler war sich vollkommen darüber im Klaren, daß die Trinkerei das pure Gift für ihn war. Er war alles andere als der klassische Alkoholiker. Wenn er sich recht daran erinnerte, konnte er mit diesem Zeug überhaupt noch nie umgehen. Und genau das war das Gefährliche daran. Anne hatte ab und an gerne einen getrunken, sie war immer aufgeblüht, wenn in Gesellschaft die fortgerückte Stunde der alkoholbedingten Enthemmnung schlug.

Er begann sich selbst zu hassen. Zu hassen wegen seiner eigenen Verbortheit, wegen seiner eigenen Unfähigkeit, die Lockerheit an den Tag zu legen, die anderen zu eigen war, und um deretwegen er so etwas wie Neid verspürte. Er haßte diesen Neid inzwischen ebenso wie die Inlinermentalität der meisten Leute in seinem Alter.
Genau. So war es. Seine Generation war die von jungen Leuten mit Inlinermentalität. Hauptsache Spaß im Leben. Alles andere war gleichgültig. Hätte er sich über all jene aufregen können, wäre alles in Ordnung gewesen. Doch das Problem lag tiefer. Er konnte sich selbst nicht ausstehen, das war das Fatale an der Sache.
Von anderen betrogen zu werden, emotional beklaut, angelogen, Tag für Tag, Stunde um Stunde- das alles war auszuhalten. Neue Freunde, neue Lügen. Neue Telefonnummern, neue Enttäuschungen. Diese Kausalitätsketten kannte er seit Jahren. Doch die alles entscheidende Frage war die, ob er selbst anders als die anderen war. Vielleicht war es jetzt einfach an der Zeit, daß ein bisher gut funktionierendes Kartenhaus begann zusammenzubrechen. Wenn er versuchte, den Ursachen auf den Grund zu kommen, schwankten die Gedanken zwischen einer unsäglichen Selbstüberschätzung, ja Arroganz seiner Umwelt gegenüber und der manchmal niederschmetternden Selbsteinschätzung, selbst unfähig zu sein, ja vielleicht noch nie über die Fähigkeit verfügt zu haben, die Art von Gesellschaft zu pflegen, wie sie ihm eine unbekannte Norm immer und immer wieder vorschrieb.
Gesellschaftsfähig. Missfits. Nicht gesellschaftsfähig. Clarke Gable, Marylin Monroe.

Gabler lag betrunken auf dem Bett. Betrunken am helllichten Tag.
Er dachte an die Wüste. An die Farben Okker und Zinnober.
An die unerträgliche Hitze des Tages und die klirrende Kälte der Nacht.
Den Sternenhimmel, die Komplexität des planetarischen Systems.

Normen. Das Wort Normen überhaupt. Wie stand er als Jurist zu diesem Begriff?- Hatte er jemals darüber ernsthaft nachgedacht?
Disziplin. Was war das? Gab es eine Disziplin im Universum? War die Gesellschaft ein Planetarium? War alles unerreichbar?
Gesellschaftsnorm. Gesellschaftsdisziplin.
Unterhaltung.

Das halbe Leben lag noch vor ihm und doch gab es Tage, an denen er sich schon am Ende dieses Schlauches zu befinden glaubte. Dieses Schlauches von Normen und Disziplin.
Konnte man so etwas lernen? Studieren? Gab es ein Studium mit dem Abschluß „gesellschaftsgenormt“?
Momente wurde zu Summenspielen. Zwei Schritte vor und drei zurück, zwei zurück und einen nach vorne.
Wie kommt man in Gesellschaft? Wie lernt man Leute kennen? Vor allem die richtigen? In der Schule, im Kindergarten, am Arbeitsplatz? Im Sport oder Musikverein? Auf der Straße? Nachbarn? War es überhaupt wichtig, „Leute zu kennen?“ Was oder wer sind Leute überhaupt? Der Bundeskanzler, ein Popstar, der neue Besitzer des größten Inlinerladens der Stadt?
All diese Komponenten hatte er doch schon Jahre zuvor durchdacht und durchlebt. Am Anfang ihrer Beziehung hatte er das alles mit Anne durchgesprochen. Nächtelang. Und es hatte funktioniert. Jahrelang.
Alexander Gabler. Weltsoziologe

„Alles ist eine Schublade,“ dachte er.
Er erinnerte sich an einen Abend während seiner Studienzeit, er jobbte damals in einem Café als Aushilfsbedienung, als er zu Hause nach der Arbeit beim Durchkramen seiner Setzkastenutensilien eine leere Kassenrolle fand. Zusammen mit anderen unnützen Dingen hatte sie in einer Schachtel mehrere Umzüge überlebt. Nun befand sie sich neben einer Plastikmickymaus, einer alten Mundharmonika und ein paar kleinen Steinen in der Schreibtischschublade. Er hatte sie vollgeschrieben mit dem Wort „Ich“. Ob es hunderte oder nur dutzende Autogrammen waren, die dabei entstanden- er vermochte es heute nicht mehr zu sagen.
War das irre? War es etwa normaler als der Auftritt des Alten mit dem Staubmantel? Interessierte das überhaupt jemanden, diese Anhäufung von Ichs?-
Anschließend hatte er alle seine Bleistifte neu gespitzt, er hatte die Kugelschreiber nach Farben sortiert, die Brille seines Opas aufgesetzt, durch die er kaum etwas sehen konnte; er war in seiner damaligen Einzimmerwohnung herumgeirrt, hatte vor dem Spiegel Grimassen gemacht.

Kurze Zeit später dann hatte er eine Brille gekauft, eine grüne, wegen der Mode, sie war weder Lese- noch Sonnenbrille, sie war einfach nur grün. So grün wie die Farbe des Lieblingsbleistiftes. So grün wie die Farbe des Teppichs in seinem Zimmer. So grün wie die Hoffnung.
All diese Absonderlichkeiten kamen ihm jetzt in den Sinn.
Gabler zitterte immer noch und wurde von einem heftigen Hustenanfall heimgesucht. Er begab sich ins Badezimmer, schüttelte sich über dem Waschbecken. Als er in den Spiegel schaute dachte er an den Schriftzug auf seinem Grabstein. Hier ruht Alexander Gabler, geboren 1961, totgesoffen 1998. War das das Ende?-

So tückisch wie die Türe, die man von beiden Seiten auf und zuschließen konnte war seine derzeitige Situation. Eine Türe ohne endgültigen Riegel.
Gabler versuchte trotz heftigsten Hustens eine Analyse.
Was hatte er falsch gemacht, warum war er arbeitslos, warum war ihm die Freundin davongelaufen. Freundin! Welche kindische Bezeichnung überhaupt. Anne war seine Frau gewesen. Sie hatten zusammen gelebt. Genau. Warum war er geschieden, mußte es heißen. Warum war er pleite, warum drauf und dran, dem Alkohol zu verfallen?
Alles Ende -und die Stimmung in seiner Wohnzelle war mehr als endzeitlich- mußte doch einen neuen Anfang in sich bergen. Das hatte er schon mehrmals erfahren. Auch damals vor zehn Jahren nach seinem Studienabbruch.
Genau. Analyse. Das war das Zauberwort. Mehrmals sagte es Gabler sich selbst vor dem Spiegel ins Gesicht.
A-n-a-l-y-s-e…
Langsam zum Mitschreiben. Nicht im mathematischen Sinne, nicht im psychiatrischen. Gabler haßte die Naturwissenschaften. Schon als Kind hatte er sie gehaßt. Das Ende und sein Anfang. Genau.
G-e-n-a-u. Gabler bemühte sich, das Spiegelgesicht anzulächeln.
G-e-n-a-u wiederholte er nochmals.
Früher war man von ihm gewohnt gewesen, daß er in Gesellschaft glänzend unterhalten konnte. Dabei begann es immer in derselben langweiligen Form: „ach ja, und was macht den der soundso, oder die soundso jetzt, habe ich ja schon lange nicht mehr gesehen, ist vielleicht schon verheiratet, oder hat schon Kinder, war sie nicht auch in deiner Klasse?“ Und so weiter und so fort. Bei näheren Bekannten, mit denen man sich öfter traf, stellte sich nach den aktuellen Tageserlebnissen meist gähnende Langeweile ein.

Gabler verfügte seit jeher über die seltene Begabung, solch peinlichen Zusammenkünften eine positive Wendung zu geben. Innerhalb von wenigen Minuten war er dazu in der Lage eine ganze Gesellschaft mit seiner mitreißenden Art zu begeistern. Ganze abendelang hatte er so schon glänzen können. Die ganze Sache hatte nur einen entscheidenden Haken: Selbst wenn Anne am nächsten Morgen sagte, daß er wieder einmal richtig gut drauf gewesen sei, ein Defizit blieb immer: Gablers Unterhaltungskünste wurden weder bezahlt, noch warfen sie Gewicht in irgendeine emotionale Beziehungswagschale.

Im Gegenteil: Wenn Anne nach der Arbeit nach Hause kam und er auf ihre Standartfrage, was er denn morgens getan hatte mit der Standartantwort „eingekauft, geputzt, abgewaschen und gekocht“ antwortete, war für sie der vorige Abend bereits vergessen. Im Büro hatte sie der Alltag mit seinen erfolgreichen Jungingenieuren wieder eingeholt. Während sie innerhalb der Firma vermutlich ständig am Flirten war, war Gabler damit beschäftigt gewesen, die Sauerei vom Vorabend aufzuräumen. Anne legte Wert auf Sauberkeit. Alles hatte an seinem platz zu sein, alles mußte glänzen.
Glänzen. Genau.
Wasch Dich endlich wieder mal, sagte er zu seinem Spiegelbild. Wasch Dich und geh in Dich. Und überprüfe Dein Inneres Alexander. Sei ehrlich.
Was waren die Ergebnisse der zahllosen Abende. Gabler vermied es, darüber nachzudenken, was ihn das alles eigentlich gekostet hatte. Sofort ausblenden, dachte er.
Letztendlich redete man mit Menschen über andere Menschen, begriff dabei nichts anderes als die alles entscheidenden Dinge wie Wein- oder Biergläser, Kaffeetassen oder Zigaretten, zu besonderen Anlässen auch Zigarren. Tatsächlich hatte Gabler vor wenigen Wochen an einem der letzten Abende noch eine Zigarre in der Hand gehabt. Mitgebracht von Oliver, Annes Lieblingsbekanntem, der jeden Samstag zu Besuch kam.
Oliver hatte sich vor Jahren, noch bevor Gabler und Anne sich kennengelernt hatten, einmal intensiv um eine Beziehung bemüht. Anne hatte damals abgelehnt. Aufgrund der gelben Nikotinfinger, die er immer habe, wie sie einmal gesagt hatte. Er war Physiker von Beruf und arbeitete bei Daimler in Stuttgart. Mit der Regelmäßigkeit eines Präzisionsuhrwerks kam dieser Mensch jeden Samstag zu Besuch, wobei sämtliche Treffen dergestalt endeten, daß Gabler nach den ersten zwei Rotweinflaschen, die man gemeinsam zu sich nahm ermüdet ins Bett ging, und Anne und Oliver die dritte Flasche gemeinsam leerten. Die Gesprächsinhalte drehten sich meist um Olivers Lamento, daß er immer noch auf der Suche nach einer geeigneten Frau sei. Bei den diversen Namen, die er im Laufe der Zeit nannte, verlieh er dem Ganzen in seiner mit dem Laufe der Zeit immer größer werdenden Belanglosigkeit durch das Spitzen seines Mundes eine gewisse geheimnisvolle Stimmung.

Pavina konnte Gabler sich noch erinnern, oder Clavina, vielleicht auch Clarinetta. Es war zum Kotzen. Oliver in seiner geheimnisvollen Langeweile war das Letzte, was Gabler jetzt im Moment ertragen konnte.
„Sofort umschalten,“ dachte er.
Doch auch all die anderen Namen waren nicht dazu angetan, seine Gedanken in entscheidendem Maße aufzuhellen.
Überhaupt.
„Wo sind die jetzt eigentlich alle,“ dachte er.
„Was hat mir das alles eigentlich gebracht?“ dachte er.
„Warum steh ich hier eigentlich besoffen vor dem Spiegel?“
„Ist es mein Ziel, meine Aufgabe, mich wieder aufzurüsten für ein Leben, bei dem einem morgens vor dem Spiegel die ersten Gesichtsfalten sagen, man solle vielleicht etwas vorsichtiger sein? Oder für furchtbare Kopfschmerzen, die einen immer wieder zu Tabletten greifen lassen, deren einzige Wirkung darin besteht, für den kommenden Abend etwas besser gerüstet zu sein. Gerüstet für noch mehr inhaltsloses Geschwätz bedingt durch noch mehr Alkohol?“-

„Ganz langsam und nochmal von vorne“, dachte Gabler. „Erstmal zwei Schritte nach vorn und nur noch einen zurück“.
Wie war das mit der Hoffnung?- Mit dem grünen Bleistift, der grünen Brille, dem grünen Teppich?
War Hoffnung etwa eine Krankheit?
War es das Leben als abbrennede Glut, als eine psychotische Autogrammsammlung auf einer Kassenrolle?
War es das Ziel, Weltrekordler im Sammeln von Telefonnummern zu werden?
War die Hoffnung ein Supermarkt?
War sie grün, rot, lia, blau?
War sie vor ein paar Wochen hier ausgezogen?
Lag sie in irgendeiner anderen Wohnung im Bett?
Kam und ging sie durch die Tür, wann immer sie wollte?
War sie frei?
War die Hoffnung eine Imbißbude oder ein Schnapsladen?

Gabler stockte.
S-c-h-n-a-p-s-l-a-d-e-n sagte er ein letztes mal zu seinem Spiegelbild, bevor er das Badezimmer verließ. Wenn die Gedanken frei sind, ist es auch die Kleiderordnung in der eigenen Wohnung. Zwar war die Miete für diesen Monat noch nicht bezahlt, und es ging schon gegen Mitte April, doch anziehen konnte er sich immer noch wie er wollte. Gabler legte Unterhemd und Socken ab, zog seinen Trenchcoat wieder an und ging barfuß in die Küche.
Der beklemmende Gang in dem er sich befand, immer enger werdend, schmaler in seiner Aussicht, vernebelt und kalt, paßte so ganz und gar zur Jahreszeit. Draußen kam noch einmal Frost auf, zu den Gedanken an das einstige Klirren der Gläser in diesen Räumen gesellte sich die klirrende Kälte. Vom Alkohol war Gabler so aufgewärmt, daß er inzwischen das Stadium eines trügerischen nicht-mehr-Frierens erreicht hatte. Das konnte gefährlich werden. Er stand an der Kaffeemaschine, goß sich eine Tasse voll und griff zu der Flasche mit dem Bioobstler.
S-c-h-n-a-p-s-l-a-d-e-n hallte es in seinem Kopf. Eine Welt aus Molekylen.
Gabler erinnerte sich an den Alten mit dem Staubmantel.
Er zögerte.
„Bin ich wahnsinnig,“ dachte er.
Draußen vor dem Fenster saß eine Krähe auf einem der Äste des Nußbaums, der fast bis in die Küche hineinragte. Sie wippte mit dem Kopf, wobei sie Gabler direkt in die Augen schaute. Ihr Gefider hatte durch den Schmutz der Fensterscheiben das Grau des Staubmantels.
Das erste mal seit Tagen machte Gabler wieder eine entschlossene Handbewegung. Genau genommen waren es zwei. Zuerst faßte er sich an den Kopf, das heißt, er schlug mit der flachen rechten Hand gegen seine Stirn. Anne hatte diese Angewohnheit immer gehaßt. Anschließend nahm er die Schnapsflasche und goß den Rest, der noch übrig war, in den Ausguß. In einem der Regale stand noch ein Kunststoffkanister, mit dem er in der selben Weise verfuhr. An die drei Liter mochten es noch gewesen sein.
„Weg damit und zwar schnell,“ dachte Gabler.

Der Geruch brannte ihm noch in der Nase nach.
Es war zwei Uhr Nachmittags, Gabler überkam plötzlich eine ungeheure Müdigkeit. Er ging in das große Zimmer, zog den Trenchcoat aus und legte sich auf sein Bücherbett. Für heute hatte er schon mal etwas geleistet.
„Achten Sie auf das Verfallsdatum Ihres Selbstbewusstseins,“ hörte er noch, bevor er in den Schlaf sank. Eine Welt voller Molekyle keine mehr da war. Scheiße, dachte er. ER schwitzte. Und das um acht hr zehn.

„Hallo hier ist der Dieter, ist die Tamara auch zu Hause.“ (welche Tamara eigentlich)
„Nein, die Tamara ist nicht zu Hause.“
„Kannst Du ihr einen Zettel hinlegen?“
„Ja, kann ich.“
„Schreib ihr doch bitte meine neue Telefonnummer auf.“
„Und die wäre?“
„3457821“
„Mach ich.“
„Danke.“
„Tschau.“

Was blieb??
Es blieb nur eines . Eines, das ein Jemand war, und es dauerte Monate, bis er erkannt hatte, daß dieserer Jemand seine Rettung, weniger pathetisch aber doch treffender ausgedrückt seine Liebe war. Sie hieß Rebecca.

Auf den ersten Blick gefiel sie ihm nicht besonders, sie war von durchschnittlicher Größe und Statur, hatte eine andere Augenfarbe als er, was eines der wenigen Merkmale war, die er auf Anhieb registrieren konnte.
Doch etwas an ihr war anders als an anderen Frauen. Was, das konnte er noch nicht sagen, vielleicht war es der Ton, in dem sie ihn ansprach. Direkt, ohne eine Sekunde zu zögern fragte sie an einer drögen Geburtstagsparty nach seinem Namen. Selten, so etwas, meist waren es die Männer, die Frauen ansprachen, umgekehrt hoffte er zwar immer darauf, oder träumte schon gar davon, aber daß es tatsächlich einmal soweit kommen würde, hatte man aus der Erwartungshaltung schon längst gestrichen.

Rebecca war direkt. Man könnte es auch forsch nennen, frech sogar. Sie machte keinen Hehl aus ihrem Desinteresse an langweiligen Gesprächen, á la „Was machst du so, wohnst du auch in einer Wohngemeinschaft“, und all die Platitüden, die man zur genüge schon rauf und runter geleiert hatte.
Sie fragte zuerst nach seinem Namen, einfach ohne eine Spur der Scheu oder gar Scham.

Ihre Stimme war das, was man gemeinhin als sonor bezeichnet. Sie paßte in ihrer Tiefe zu ihrer Körpergröße, und vor alllem zu den riesigen Füßen, eines der ersten Merkmale, die ihm auf anhieb auffielen.

Über ihre Herkunft wußte er zunächst wenig, nur daß sie nicht aus der Gegend stammte. Sie gebrauchte die Hochsprache, insofern ließ sich schwer feststellen, wo genau sie aufgewachsen war.
Spielte das eine Rolle?-

Die restlichen Gäste jenes Abends, an dem er sie zum ersten male sah, waren ihm teils bekannt, teils nicht. Ein alter Freund aus der Schulzeit war anwesend, der Bruder eines entfernten Bekannten aus seiner Zeit in der Großstadt, einige Paare, über die er so gut wie nichts wußte.
Die Gastgeberin, hatte sich etwas Besonderes einfallen lassen für den Abend, es wurde der herbstlichen Jahresezeit entsprechend deftige Kost gereicht. Schlachtplatte mit Sauerkraut, allerlei Köstlichkeiten vom Schwein, dazu Bier aus der Flasche. Richtig deftig sollte es sein, so ganz nach Ritterart.
Er fand das zum Kotzen, und in diesem Gefühl bedeutete Rebecca ihm durch Ihre Blicke die erste Gemeinsamkeit.

Gelegenheit miteinander zu sprechen hatten sie nur wenig, es wurde in der Art geplaudert, daß man sich am nächsten Morgen keine Sorgen zu machen brauchte, ob irgendjemand etwas falsches gesagt hätte. Harmlos könnte man es auch nennen.

Von ihrer ersten bis zur zweiten Begegnug vergingen Monate. Er dachte ab und zu an sie, ob sie daselbe tat, wußte er nicht. So etwas wie Hoffnung- ein großes Wort- hegte er noch nicht. Die Tage während dieser Zeit waren damit ausgefüllt, sich auf den Beruf vorzubereiten, den er ausüben wollte. Morgens der Gang an die Universität, er wohnte auswärts, und mußte schon alleine ein bis zwei Stunden am Tag damit zubringen, im Auto zu sitzen. Verlorene Zeit.-
Damals war es gerade in Mode gekommen, Cassetten zu hören, mit deren Hilfe man fremde Sprachen lernen konnte. Italienisch, französisch, was auch immer. Sein Auto jedoch verfügte noch nicht über diese technischen Errungenschaft, vielmehr doch, aber sie war kaputt. Das Geld um diese Misere beenden zu können hatte er zwar, doch stellte er damit Dinge an, über die es sich aus heutiger Sicht weder nachzudenken, geschweige denn zu reden lohnt. Es waren immer wieder kleine Investitionenn in unnütze Dinge wie Zigaretten oder ähnliches. Hätte er von früh an damit Schluß gemacht… ja, hätte er…

An der Universität traf er nach Jahren einen alten Bekannten, der ebenfalls in der Vorbereitung auf seine Prüfung steckte. Peter hatte in dem riesigen Gebäudekomplex bereits ein kleines Büro, er war dort seit mehreren Jahren ansässig. Mit ihm konnte man auf bequeme Art und Weise den Tag verbringen. da er aus der selben Stadt stammte, einer sogenannten Vorstadt, was deren Bewohner nur äußerst ungern hörten, gründeten sie ein Fahrgemeinschaft, um die Kosten für das Benzin niedriger zu halten. Peters Freundin, oder vielmehr Verlobte, Claudia, war ab und an auf den Fahrten mit dabei.
Zu dritt ließ es sich besser In Fremdsprachen reisen als alleine mit einem Cassettenrecorder.
Claudias größtes Problem bestand in der Kluft ihrer elterlichen Herkunft- der Vater war höherer Beamter im Staatsdienst, die Mutter eine große Sammlerin expressionistischer Kunst- mit der doch arg vergammelten Lederjacke von Peter.

Um es genau zu sagen trennte man sich schon bevor man das erste mal zusammen war. Nicht nur wegen der Lederjacken und auch nicht wegen Ernst-Ludwig Kirchner. Schon gar nicht wegen eines in Ausssicht stehenden Beamtentums oder dem Streit über die genauen Koordinaten des Urlaubsortes in der Toscana.

Ja, die drei Monate an der Universität vergingen, ohne daß Rebecca ein Zeichen von sich gab. Warum hätte sie auch sollen?- Macht ein Mann einer Frau Avancen, muß er die Initiative ergreifen.

Rebecca stammte aus einer Familie, über die er so gut wie nichts wußte. Ihr Vater war Arzt, geschieden von der Mutter, die ebenfalls einige Jahre praktizierte. Er lebte in zweiter Ehe mit einer Frau, die den längeren Atem hatte als seine erste.
Sie war jünger als er, wesentlich jünger, schöner vielleicht, jedenfalls hatte sie mehr Energie. Als er sie das erste mal kennenlernte, trug sie, was für eine Frau um die Fünfzig nicht gerader üblich ist, ein schwarzes Stratchmini, hochhackige Schuhe, und schlüpfte mit dieser Montur aus einem silbergrauen Mercedes. Ein Auto der Extraklasse. Was das alles mit Prosecco zu tun hatte, davon hatte er noch keine Ahnung.
Jedenfalls war sie attraktiv, wenn auch nicht sein Typ.

Man hatte sich zu einem gemeinsamen Urlaub in der Provence verabredet. Rebecca und er kamen mit seinem zerbeulten Fiat an, nach stundenlanger Fahrt vollkommen übermüdet.
Die beiden- er hatte sie im übrigen niemals gedutzt, bis auf ein einziges mal, und zwar die Frau, in einem Moment, der Unachtsamkeit, hatten Rebeccas Halbgeschwister bei sich.
Ein häßliches Wort, früher sagte man noch Stiefbruder oder Schwester. Oder auch Stiefmutter. All das klingt ihm bis heute wie Prosecco in den Ohren.
Rebecca und er kannten sich immer noch wenig, sie waren in fast einem Jahr gerade drei oder viermal zusammen aus gewesen. Zu einem Konzert, einem nächtlichen Spaziergang. Sie wahrten Distanz. Eine Distanz, die sie mit Spannung lud, das konnte er spüren.
In diesem Familienurlaub, in dem er der einzige war, der zuvor nur eine Person gekannt hatte, das heißt, er mußte sich als Außenseiter begreifen, was er auch tat, obwohl es ihm mir nicht leicht fiel, lernte er Rebecca erst kennen.
Sie hatte die Physiognomie einer seltenen Pflanze. Vielleicht einer Orchidee oder einer Calla. Ihr Bild vor seinen Augen zu tragen, wenn sie nur für wenige Minuten abwesend war, hatte etwas von einer zauberhaften Illusion.

Sie liebten sich, heftig und oft, im Bett und in der freien Natur, bei Tag und bei Nacht.
Später erfuhr er, daß sie ein Verhältnis zu ihrem Vater hatte, ein anderes als er, mit einer anderen Geschichte und einem anderen Hintergrund, von dem er zu diesem Zeitpunkt nicht die geringste Ahnung hatte.

Das Zimmer
Rebeccas Zimmer, sie wohnte damals in einer Wohngemeinschaft, zusammen mit vier anderen, die alle sein Alter hatten, gefiel ihm auf den ersten Blick. Als er es betreten durfte, sah er ein Plakat der „Roten Frau“ von Otto Dix, jene laszive-verführerische Darstellung mit Zigarettenspitze und Seidenkleid.
Drei Jahre später führte ihn Rebecca zu einem Nachfahren des Malers, es war bei der Vernissage einer Künstlerin. dieser alte Mann, hatte ihm imponiert, Er spielte ein glänzendes Jazzcornett, war mit einer sehr jungen Frau zusammen, die seine Tochter hätte sein können.
Doch die Frau in rot war nicht das, was ihm gefiel. Ihm gefielen Rebeccas Fotos an der Wand; Fotos aus ihrer Kinderzeit, fröhliche Fotos. Das war es, was ihn an ihr anzog. Sie hatte wenig schwermütiges, sie war ein unterhaltsamer Charakter, offen und spontan.
Sie besaß einen Zitronenbaum, den sie selbst gezogen hatte, darauf war sie sehr stolz.
Ihr Steckenpferd, wenn man es so nennen möchte, war das Sammeln von unnützen Gegenständen. Darin hatten sie eine große Gemeinsamkeit. Ob es alte bunte Bänder von Geschenkpackungen waren oder Erinnerungsstücke wie kleine leere Dosen oder Steine, die man auf einem Spaziergang aufgesammelt hatte. Ihr Faible für diese geschichten gefiel ihm.

Als er sie zum ersten mal sehen durfte, zeigte sie dasselbe Gesicht wie bei ihrer ersten Verabredung. Sie gingen zum Baden an den Strand, und beim Zusammenpacken von Handtuch und Badeanzug legte sie eine seltsame Gaschäftigkeit an den Tag. Alles mußte schnell gehen, ihre Mundwinkel verzogen sich zu einem Gefühl, vielmehr einer Sehnsucht nach Ferne. Darum durfte er ihr nahe sein, das spürte er.
Ihr Rücken war weiß wie Schnee, voller Sommersprossen, und er spürte Verlangen. Ein Verlangen, diese Haut berühren zu dürfen, sie an ihrem Nacken hochzuheben wie man eine Katze hochhebt.

Wie sie sich in ihrem Zimmer bewegte, in diesem doch sehr kleinen Raum, der vielleicht fünfzehn Quadratmeter hatte, wie sie ihren rechten Fuß drehte, nur leicht zur Seite, wie sie die Augen weit öffnete, bei den Begrüßungen, bei denen sie ihn als Tom Cruise-Typ bezeichnete- übrigens hing an der Wohnungstür noch ein Rex Gildo-Poster- all das hatte die Unbeschwertheit von Worten und die Leichtigkeit ihrer Körper zur Folge.
Sie liebten sich zum ersten mal in dem Zimmer nebenan; sie war umgezogen, und hatte ein Hochbett. Sie sprachen nicht ein einziges Wort miteinander, es war fünf oder sechs Uhr morgens, draußen begann es zu dämmern, für die beiden begann eine Art Stille.

Jahre später
Wo ist Rebecca jetzt, was tut sie. Der Kontakt ist abgebrochen, die Zeit steht still. Rebeccas Haut ist nicht mehr weiß, sie ist zerfleddert von der Macht der Ionen. Rebeca arbeitet jetzt in einer großen Fabrik. Rebeccas Name ist ihr Schicksaal. Rebecca muß zum Dienst, sie hat keine Zeit, sie arbeitet. Rebecca arbeitet nicht an ihren Kindern, an einer Familie, sie studiert, sie schreibt Prüfungen, für deren Bestehen eigentlich ihre Kinder zuständig wären. Doch sie schreibt die Prüfungen nicht für die Kinder, sie schreibt sie für sich und für einen Vater, dessen Vaterschaft, vielmehr dessen Recht auf Vaterschaft in einem Büro besteht. In einem Büro, in dem viele Rebeccas Zuflucht suchen.

Was ist mit den Kindern, wer hat sie uns gestohlen?-
Wo waren wir, als sie geboren wurden?
Rebecca ist unfruchtbar geworden, ihr Leib ist zerstört von der Macht der Büros.
Sein Leib ist zerstört, er ist zerstört von der Macht eines Büros.
Von Büros, in denen sich einst niemand mehr einfand, die sich umgewandelt hatten in Sitzungsräume, in Liegeräume, in eine 12qm Musikhalle.